Philosophiestunde
Rektor Otto L. trug ausgebeulte Anzüge. Seine Wohnung, die ich einmal betreten hatte, weil ich im Auftrag des Herrn Präfekten ein Schriftstück überreichen sollte, war ohne jede Behaglichkeit; eine Absteige. Er erzählte uns, dass er als Bergarbeiter tätig gewesen war, bevor er das Abitur nachgeholt und studiert hatte. Dabei rauchte er wie fast immer eine Zigarre. Hatte jemand Schnupftabak dabei, was damals in den frühen Siebzigern bei uns Jugendlichen hin und wieder vorkam, streckte der Rektor gerne seine Hand hin für eine Prise. „Das Zeug“ erinnre ihn an seine Zeit als Bergarbeiter, sagte er. In seine Reden flocht er nicht selten die Aussprüche antiker Denker, besonders wenn er die Abendansprache in der Kapelle hielt. Einmal erwähnte er die Vorsokratiker, dass sie versucht hätten, die widerspruchsvolle Erscheinungswelt mit rationalen Überlegungen zu beleuchten, die Naturforschung sei bereits damals zum Kriterium der Wahrheit erhoben worden. Einige von uns wollten Näheres darüber erfahren und stellten Fragen. Der Rektor sah in unsere Gesichter und erbot sich, mit uns in abendlichen Einheiten Textauszüge antiker Klassiker zu lesen. „Wer macht mit?“, fragte er. Es meldeten sich nur zwei, Thomas G. und ich; auf die Abendfreizeit wollten die meisten nicht verzichten. Der Internatsleiter nickte nach seiner Art, schaute in die Runde, nickte immer noch, sah auf mich und Thomas G. und sagte wie zu sich selbst ein langgezogenes „Jaaaaaaaa!“
„Können wir heute Abend schon anfangen?“, fragte Thomas G.
„Gut“, antwortete der Rektor nach einem kurzen Zögern. „Wir treffen uns im Studiersaal.“
Nach dem Abendessen passten Thomas G. und ich den Rektor noch im Speisesaal ab und sagten ihm, dass wir in den Studiersaal gehen würden. Der Rektor blickte uns im ersten Moment entgeistert an, bis ihm der Grund für die Mitteilung wieder einfiel.
„In Ordnung!“, meinte er … „Haltet etwas zu schreiben bereit“, rief er uns hinterher.
„Vielleicht vergisst er es wieder“, mutmaßte Thomas G., als ich mit ihm das Treppenhaus zum ersten Stockwerk erstieg, wo sich unser Studiersaal mit den Pulten befand.
Aber Thomas G. lag falsch. Rektor L. erschien im Studiersaal mit einem Buch in der Hand. Er schlug eine bestimmte Seite auf, die er sich durch einen Zeitungsfetzen kenntlich gemacht hatte, überreichte uns den Band und meinte:
„Das ist ein Dialog, lest ihn laut vor mit verteilten Rollen. Ich höre euch zu. Einer der Dialogpartner heißt Sokrates, der andere Simmias. Wer liest den Philosophen Sokrates?“
Ich meldete mich sofort. Der Rektor sah mich nur an, blickte dann auf Thomas G. und bedeutete ihm:
„Du liest die Rolle des Schülers Simmias.“
Das geöffnete Buch nahm ich vom Rektor entgegen, legte es auf die Pultdeckel zwischen Thomas G. und mich, dass wir beide hineinsehen konnten, und las die Überschrift: „Platon: Philosophie als Vorbereitung zum Tode“. Dann sah ich auf den Text. Als erster sprach Sokrates. Ich begann vorzulesen …
Dass die Sprechanteile so ungleich verteilt sind, wusste ich nicht. Meiner Verwunderung darüber gab ich mit einem Lächeln am Ende unserer Lesung Ausdruck. Der Rektor warf mir einen Blick zu, den ich folgendermaßen deutete: Du hast die Rolle des Sokrates gewollt – und gut gelesen!
„Habt ihr Fragen zu einem Wort?“
Thomas G. erkundigte sich nach „Thyrsosträger“.
„Der Thyrsos ist in der griechischen Mythologie ein Stab“, antwortete der Rektor. An der Spitze konnte er bekrönt sein mit einem Pinienzapfen. Er ist ein Attribut …“ Der Rektor besann sich: „ein Erkennungszeichen des Gottes Dionysos, vor allem aber bei dessen Begleitern, die Mänaden oder Satyr genannt werden. Wichtig ist es, dass ihr die Bedeutung des Satzes …“ Der Rektor verlangte nach dem Buch, suchte den Satz und zitierte: „Viele sind Thyrsosträger […] wenige aber sind echt Begeisterte.“ Könnt ihr euch denken, was damit gemeint ist?
Thomas G. mutmaßte: „Vielleicht, dass nur wenige Menschen bereit sind, sich für eine Sache wirklich einzusetzen.“
Der Rektor nickte zufrieden.
„Trifft es vielleicht auch auf uns zu?“, fragte ich, „dass nur Thomas G. und ich jetzt hier mit Ihnen über Philosophie sprechen, obwohl sich viele andere eigentlich auch dafür interessieren?“
Der Rektor lächelte. „Ja, ‚gehen wir von dem aus, was unser Fall ist‘, heißt es glaube ich bei Ernst Bloch.“ Es war das erste Mal, dass ich den Namen des Philosophen der Hoffnung, der damals noch in Tübingen in einer Mietwohnung im Schwanzer 35, heute Ernst-Bloch-Straße, wohnte, gehört habe.
„Philosophie findet nach meiner Erfahrung nur bei wenigen Menschen ein wirkliches Interesse, auch wenn – wie du richtig gesagt hast – eine oberflächliche Neigung bei vielen vorhanden sein mag. In unserem Dialog gibt es zu diesem Punkt auch schon Stellungnahmen von Sokrates. Übrigens stammt der Textauszug, den ihr gelesen habt, aus Platons Dialog ‚Phaidon‘, wo die letzten Stunden des Sokrates vor seinem Tod durch den Giftbecher geschildert werden. Platon war ein Schüler des Sokrates; sein bedeutendster. – Habt ihr sonst noch Fragen zum Text?
„Warum stand Sokrates vor athenischen Richtern, und warum sollte er sterben?“
„Er ist einflussreichen Leuten im damaligen Athen – um das Jahr 400 vor Christus – unangenehm geworden durch seine Art zu fragen und Sachverhalte anzusprechen. Man warf ihm Gotteslästerung und Verführung der Jugend vor.“
„Verführung der Jugend?“, wiederholte Thomas G.
„Verführung zu aufmüpfigem Denken“, erklärte der Rektor. Thomas G. nickte, dass er verstanden habe.
„Aber nun passt auf!“, sagte der Rektor. „Geht mit eurem Schreibzeug nach draußen, ich meine auf das Freigelände des Konvikts. Geht nicht zusammen, sondern jeder für sich. Notiert euch Gedanken und Ideen zum Dialog, den ihr gelesen habt. Ich erwarte euch in einer Viertelstunde wieder hier zurück. Schaut auf eure Armbanduhren.“
Wir waren uns der Besonderheit des Auftrages bewusst und gehorchten sofort. Zusammen gingen wir aus dem Studiersaal, über den Flur, das Treppenhaus bis zur Hauptpforte, die wir durchschritten, und draußen zwölf steinerne Stufen hinab. Dann trennten sich unsere Wege.
„Gehst du da, ich da“, meinte Thomas G. Wir befanden uns auf der Ostseite des Konvikts, wo auch der Außenzugang zur Kapelle angebracht war, wenn etwa die Kapelle zur Messfeier für die Bürgerschaft der Stadt bereitstand. Normalerweise blieb der Außenzugang geschlossen. Wir Konviktsschüler erreichten die Kapelle zum täglichen Morgen- und Abendgebet sowie zum donnerstäglichen Gottesdienst am Abend über den Kapellengang im Hausinneren.
Thomas G. hatte mir die Richtung über den „kleinen Bergweg“ hinab zur Nordseite des Konvikts vorgeschlagen, er selbst lief auf die Südseite zu.
Was sollte ich notieren? Was war mir besonders im Gedächtnis geblieben? Ich drückte meinen Schreibblock gegen die Mauer des Konvikts auf der Nordseite, wo mir schon die Rufe und Bolzgeräusche der Fußballspieler auf dem nahen Sandplatz in die Ohren drangen, und schrieb:
Sokrates lehrt den Simmias, dass die Philosophie ein Mittel darstellt, um sich beinahe vollständig aus allen Zwängen zu befreien. Das letzte Wort darüber hat Gott, aber der Mensch muss sich vorbereiten … in die Lage versetzen zur Freiheit.
Dann wollte ich weitergehen, war mir aber unschlüssig wohin. Auf der Nordseite bleiben und mich ans Fischbassin setzen, das noch einige Schritte entfernt lag, oder das Konvikt umrunden, zur Westseite mit der Wilhelmstraße gehen, weiter zur Südseite mit der Kirchbergstraße und wieder zur Hauptpforte auf der Ostseite laufen? Eine Viertelstunde war nicht lang. Ich schaute auf meine Uhr – nur noch acht Minuten blieben übrig. Da besuchte ich die Fische, die meine Freunde waren. Große, dicke Goldfische. Kois kannte ich noch nicht, aber sie wären mit den Goldfischen des Konvikts verwechselbar gewesen.
Den Fischen sagte ich zum Abschied:
„Ich bleibe bei diesem Punkt, dass die Philosophie Freiheit verbürgt. Den Weg, den Platon oder Sokrates vorschlägt – wer eigentlich von den beiden? – leuchtet mir nur zum Teil ein. Mal sehen, was sich Thomas G. notiert hat. Jetzt muss ich zurück.“
Als ich die Hauptpforte geöffnet hatte, der rechte Flügel einer doppelseitigen schweren Eichentür, einen Zwischenraum mit einem Pförtnerfenster auf der linken Seite durchschritten – die beiden Pförtner waren Schüler des Hauses aus der zehnten Klasse – und noch einmal eine schwere Holztür geöffnet hatte, um ins Foyer des Konvikts zu gelangen, sah ich, wie Thomas G. im Treppenhaus rechts abbog und vor meinem Blick verschwand.
Immer zwei Stufen nehmend, betrat ich kurz nach Thomas G., der gemächlich gegangen war, den Studiersaal. Aber welcher Anblick erwartete mich! Der Rektor hatte während unserer Abwesenheit im Sitzen den Kopf auf seinen Arm auf der Tischplatte gelegt und war eingeschlafen. Wie konnte das sein? Thomas G. schaute mich ratlos an. Was sollten wir tun?
Da hörten wir vom Gang Rufe der Kameraden: „Herr Rektor!“, „Herr Rektor L.!“, „Hallo, Herr Rektor!“ und so weiter. Der Internatsleiter schlief immer noch. Thomas G. und ich liefen nach draußen auf den Gang, entdeckten die Kameraden und riefen:
„Hier ist der Rektor!“
„Wo?“
„Im Studiersaal.“
Der Präfekt tauchte auf, von uns Konviktsschülern „Prä“ genannt.
„Im Studiersaal?“, fragte der Prä.
„Ja, er schläft“, antwortete ich.
„Er schläft?“, rief der Prä fast. Misstrauisch lief der Erzieher in den Studiersaal, wir alle – zusammen mit Thomas G. und mir eine Gruppe von fünf oder sechs Kameraden – hinterher. Durch den Lärm war der Rektor erwacht und hatte sich von seinem Platz erhoben. Schlaftrunken blickte er uns an.
„Herr Rektor, haben Sie geschlafen?“, fragte der Prä.
„Ein wenig. Ein Nickerchen. Ich muss wohl eingenickt sein. – Was gibt es denn?“
„Ein Anruf. Die Eltern von Urban K. möchten Sie sprechen, sagt der Pförtner. Sie bitten um Ihren Rückruf“, antwortete der Prä.
„Heute Abend noch?“
„Es scheint etwas Dringendes zu sein.“
„Nun gut“, meinte der Rektor. Er wandte sich an Thomas G. und mich:
„Wir müssen für heute unsre Sitzung beenden. Aber ihr selbst könnt weiter miteinander philosophieren. Tut dies nur. Es wird gewiss kein Schaden sein.“
„Und das Buch?“, fragte ich.
„Könnt ihr heute noch behalten. Morgen gebt ihr es mir wieder zurück.“
Damit wandte er sich erneut an den Prä:
„In der Pforte, sagen Sie? Ich gehe dorthin.“
Rektor L. lief nun ohne weiteres davon, ohne sich noch um den Prä oder die anwesenden Konviktsschüler zu kümmern. Der Prä warf ihm einen kritischen Blick nach. Aus den Erfahrungen des vergangenen Schuljahres heraus, wo es zu manchen Misshelligkeiten zwischen ihm und L. gekommen war, die auch uns Schülern nicht verborgen geblieben waren, zweifelte er an der Fähigkeit des Rektors zur Führung des Hauses. Der Spiritus Rector im Konvikt war zweifellos der Prä. Seit zweiundzwanzig Jahren versah er seinen Dienst als zweiter Mann nach dem – jeweiligen – Rektor. Warum er nicht längst schon selbst Rektor geworden war, wusste ich damals noch nicht, sollte es jedoch bald erfahren. Otto L. war der vierte Rektor, den er erlebte.