Allegorien
03.10.2023
Es war wohl um die zwölfte Stunde, gegen Mitternacht, als sich die Festgesellschaft von ihrem Bankett erhob, ihre Pechfackeln, Laternen und schwarzen Kerzen zur Hand nahm und lautlos, fast gespenstisch anmutend, den Großen Saal in der Höllenschlucht verließ. Sie streiften ihre schwarzen Handschuhe sorgfältig über ihre knochigen Finger, zogen ihre schwarzen, schweren Kutten fester um ihre Schultern und ihre Kapuzen tief ins finstere Gesicht, so dass man sie in der Dunkelheit der Nacht durchaus für eine feierliche Prozession hätte halten können. Sie fanden schlafwandlerisch und sicher ihren Weg zu den Menschen, die ahnungslos im Schlummer lagen.
Immer schon suchten sie, solange es Menschen gab, deren unachtsame Nähe. Vom fernsten Rande der bewohnten Welt, wo sie in den Abgründen besagter Höllenschlucht ihre Heimstatt fanden, suchten sie in den finsteren Nächten, da das menschliche Bewusstsein schlief, die Nähe der Hütten der Armen, die Gehöfte der reichen Bauern, die prunkvollen Paläste der Reichen, Könige und Kaiser, die Villen der Aristokraten und Nobiles, sowie die goldausgeschlagenen Kirchen und Paläste der Kirchenfürsten, der Bischöfe, der Erzbischöfe, der Kardinäle… Kein Mensch war vor ihrem infamen Zugriff sicher — weder Bettler noch Edelmann, weder Geistlicher noch Philosoph, weder Politiker noch Diktator. Einzig ein liebendes Herz vermochten sie nicht zu vergiften oder in ihren Bann zu schlagen. Sie verfluchten daher seit Jahrtausenden den Satz des Vergil: omnia vincit amor. Amor, dieser armselige, kleine Knabe, fast noch ein Kind, der mit seiner Liebes-Macht ihre Ränke und Intrigen abzuwehren oder doch immer wieder zu durchkreuzen vermochte, der die Leuchte der Vernunft, die Ordnung des Verstandes, die Systematik des menschlichen Geistes sowie die unbestechliche Klarheit des Tages-Bewusstseins unüberwindbar in der Menschheit lebendig hielt. Sein helles Licht des Tages wies unbeirrbar den Menschen einen sinnerfüllten Lebens-Weg und stand damit der eigenen Leidenschaft zur Nacht sperrig im Wege. Sie verfluchten ihn. Sie hassten ihn. Abgrundtief. Allein, so klein er auch war, seine Macht war mächtiger, als ihre Macht der Finsternis. Irgendwann einmal, in einem unbewachten Augenblick, so schien es, kam dieses Licht in die Welt der Menschen und konnte seitdem nicht mehr verlöscht werden. Es war eine unausrottbare Realität, wie die eigene Realität des Bösen, quasi ein Stiefbruder unter übermächtigen Geschwistern. Zwar nicht Geist von ihrem Geist, sondern Wirklichkeit von Wirklichkeit, diesen Verwandten jedoch ein ewiges, schmerzliches Skandalon, ihrem Fluch ein Gegen-Fluch, ihrer Apokalypse eine Entschleierung der Maya und damit der Menschheit ein Segen.
Heute Nacht jedoch, das spürten alle Anwesenden, würden sie ihr eigenes Schicksal erneut wenden. Seit Jahrtausenden war es so im weiten Rund der Menschheit: Gedeihten Wohlstand, Sitte, Kultur, waren Gesetze, Gesellschaften und Staaten aufs Beste geordnet und in höchster Blüte, dann standen die unheimlichen Gestalten der menschlichen Abgründe bereits auf der Schwelle des Tores, um sie, wie einstmals Troja, die Mächtige, die scheinbar unbezwingbare Feste, mit List, Verrat und Heimtücke in Schutt und Asche zu legen. Sie seufzten erleichtert, denn es war, sie wussten dies, ihre Nacht der Nächte. Es war ihre Zeit, ihre Stunde, die sie nicht ungenutzt verstreichen lassen durften. Hier und jetzt galt es unverzüglich und selbst-bewusst zu handeln… Jede und Jeder hatte seine Aufgabe zugewiesen bekommen, die sie dankbar übernahmen und nun — endlich! — erneut in die verheerende Tat umsetzen wollten…—
An der Spitze dieser finsteren Prozession schritt die Lüge. In einer Phiole verwahrt, ihr Gift, das sie noch in dieser Nacht ihren Opfern sachte ins Ohr träufeln würde. Der Schlafende, das wusste sie, würde davon nichts bemerken, noch würde das Tages-Bewusstsein irgendeinen Verdacht schöpfen. Ihr Gift war stark und wirkte auf Menschen Tod-sicher. Es würde als Traum oder Ahnung auf seinem Weg vom Ohr langsam zum Herzen sickern und dabei das Herz aus Fleisch in ein Herz aus Stein verwandeln. Totenstarr. Das Gift war eine spezielle Tinktur, die ihr jüngerer Bruder, der Wahn, gemixt hatte. Die Wirkung dieser Droge war vernichtend: Der Infizierte konnte im wachen Zustand auf einmal nicht mehr unterscheiden, was richtig oder falsch, was wahr oder gelogen, was angemessen oder entgrenzt, was förderlich oder vernichtend, was Fried-voll oder aber zerstörerisch war. Ja schlimmer noch als diese Zweifel-hafte, bipolare Spannung: Was ihm bisher als richtig, wahr, angemessen, förderlich erschien, das verkehrte sich unter dem Einfluss dieser Droge in dessen Gegenteil! Das frei Erfundene erschien ihm nun als das eigentlich Reale hinsichtlich der Welt; das frei Erfundene schien nun auch richtig zu sein, hinsichtlich all dessen, was einstmals (wissenschaftliche) Fakten waren. Und was früher zurecht Lüge oder Unwahrheit genannt wurde, weil sie es faktisch waren, das wurde nun im Drogen-Rausch als Neue Wahrheit empfunden. Eine Wahrheit die beides, bedingungslos und absolut in ihrer Geltung zu sein schien. Eine „ewig gültige Wahrheit“ eben.
Diesen beiden, der Lüge und dem Wahn, arbeiteten deren Geschwister, die Manipulation sowie die Kränkung, zu. Durch ihre mantraartige, die Lüge bestätigende Wiederholung, verstärkte und verfestigte die Manipulation die falschen, verstellenden Vorstellungen als wahre Realitäten in der Wirklichkeit der Seele. Die Manipulation wusste: Sie musste eine Lüge nur beständig wiederholen, solange, bis sie vom verunsicherten Meinen als wahr empfunden wurde. Die Macht der Manipulation lag in der Wiederholung der Lüge als Wahrheit ad infinitum. Und die Destruktion der allgemeinen, faktischen Realität lag darin, deren Fakten, als Gegen-Entwurf beständig als Lügen zu brandmarken. Der Zweifel würde sodann ein Übriges tun und das Bewusstsein in einer unaushaltbaren antithetischen Spannung letztlich kollabieren lassen. Anders die Aufgabe, die der Schwester der Kränkung zukam: diese forcierte die schwarzen, negativen, destruktiven Überzeugungen, indem sie dem bereits durch das Gift Geschwächten ununterbrochen Geschichten der Benachteiligung, der Verletzung, der Beschämung, der Ohnmacht, der Minderwertigkeit, etc. hinzu-fügte. Hand in Hand erschufen diese Fünf: die Lüge, die Manipulation, der destruktive Zweifel, die Kränkung, der Wahn, ein Maßwerk von geradezu kathedralenartiger Dimensionen. Denn wie in einer gotischen Kathedrale stützten die jeweiligen Argumente der einen die lügenhaften Behauptungen der anderen und diese wiederum die schwarzen, destruktiven Überzeugungen, die als unumstößlich wahr geglaubt wurden.
In diesem inneren Welten-Raum, in dieser verunstalteten persönlichen Wirklichkeit, hatten zwei weitere Geschwister, die Niedertracht und die Verleumdung, leichtes Spiel. Die Niedertracht suggerierte, dass die Schlechtigkeit für den Einzelnen in vielerlei Hinsicht große Chancen und persönliche Gewinne bereithielt. Man müsse nur den Mut haben, sich über geltende Gepflogenheiten, Normen, Sitten und Gesetze hinwegzusetzen, um die Früchte zu ernten und deren Reichtümer einfahren zu können. Und die Verleumdung gerierte sich als Neue Tugend, die es zu wertschätzen gälte, da sie es doch schließlich sei, die bestehende Beschränkungen, allgemeingültige Grenzen sowie alte Schutzmauern niederreißen könne.
Dem Zweier-Bund aus Niedertrach und Verleumdung trat als dritte Macht, die Zweitracht, hinzu. Was jene beiden begonnen hatten, würde sie selbst sodann vollenden: Der unaufhaltbare Zerfall jeglichen Gemeinwesens. Was einstmals an verschiedensten Talenten und Möglichkeiten bunt und damit, nicht nur in ideeller Hinsicht, reich war, das sollte fortan monochrom schwarz und einheitlich destruktiv werden. Denn das Destruktive, das Einengende, das Unterjochende, das Ängstigende, das Terrorisierende — kurzum: das Böse — sollte die Neue, die Zukünftige Gesellschafts-Ordnung werden. Ein tausendjähriges Großreich würde auf dieser Grundlage entstehen. Nicht nur in Europa, Asien und Amerika, sondern weltweit. So empfanden die Geschwister, als sie in der Nacht auf die Menschen zuschritten… Sie witterten bereits Morgenluft in einer fahlhellen Dämmerung.
Und war es ihnen nicht erst vor kurzem gelungen, historisch gesehen, lediglich ein Wimpernschlag entfernt, mit ihren Brüdern des tiefschürfenden Grolls, des Neides, des Hasses, einen blindwütigen Fanatismus zu inthronisieren, der für etwas mehr als eine Dekate die gesamte Welt mit Krieg überzog. Ein Fanatismus weltgeschichtlichen Ausmaßes, der absolutistisch alles Denken, alles Fühlen, alles Erleben durchwaltete und beherrschte? In dieser Schicksals-Nacht, das spürten alle Beteiligten, war jene Stunde gekommen, da sie erneut ihren Zwillings-Brüdern — dem Fantismus und dem Krieg — huldigen würden. Es war an der Zeit — wie einstmals Troja, die scheinbar unbezwingbare Feste — die letzten Bastionen und Burgen des Friedens, des Wohlstandes, der Demokratien mit ihren Freiheits-Gesetzen und persönlichen Schutz-Räumen, in Schutt und Asche zu legen, und nichts als verbrannte Erde von ehemals blühenden Kulturen übrig zu lassen. Es war der Neue Morgen einer beispielhaften Zeiten-Wende.
Sie würden ihre verhassten Stiefgeschwister — die Liebe, die Schönheit, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die menschliche Vernunft, den Verstand, den Geist, das menschliche Bewusst-Sein — in Ketten legen und deren „Licht der Welt“, dieses verhasste „Reich des Lichtes“, in ein Reich der Schatten verwandeln. Selbst dann, auch dies wussten die schwarzen Gestalten der nächtlichen Prozession, wenn sie in Rechnung stellten, dass ihre Stief-Geschwister ihre inhaltliche Gestalt lediglich einem unterschiedlich ausgerichteten Geist verdankten, während sie als Geschwister doch zugleich von derselben Wirklichkeit abstammten…—
Gleichviel. Die ersten Pechfackeln fliegen bereits über die Brandmauern und setzen „Troja“ in Brand…—