Anfangen zu erzählen
Heute weiß ich nicht mehr, wie ich mit den beiden Frauen ins Gespräch gekommen bin. Die Geschichte liegt über dreißig Jahre zurück. Überall wurden Computer aufgestellt und installiert. Natürlich auch an meiner Uni. Ich hatte im Büro Professor D.s meine letzte Hausarbeit in Germanistik abgegeben und war dann aus einem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnern kann, zum Büro Professor K.s gegangen. Eine Zeitlang hatte ich ihm als studentische Hilfskraft gedient. Die Sekretärin Professor K.s entdeckte ich vor einem klobigen Bildschirm und einer Tastatur. Ich fragte sie, worin der Vorteil „des Geräts“ bestehe und erhielt zur Antwort, dass damit Wörter und Sätze in einen Text eingefügt werden könnten, dass sich auch „ganz leicht“ Grafiken oder Fotos montieren ließen und so weiter. Trotz meiner Skepsis vor der neuen Technik musste ich mir eingestehen, dass eine Arbeitserleichterung gegeben war. Mein Handwerkszeug beim Abfassen von Hausarbeiten bestand aus einer mechanischen Schreibmaschine, Papier und Korrekturflüssigkeit zum Überdecken von Tippfehlern. Hin und wieder musste ich auf einem Extrablatt Sätze und ganze Absätze neu schreiben, zur Schere greifen und den ausgeschnittenen Papierstreifen in das Typoskript kleben, wobei die Ränder mit Korrekturflüssigkeit zu kaschieren waren. Natürlich konnte ich nur eine kopierte Fassung als Hausarbeit abgeben. Doch zurück zu den eingangs erwähnten „beiden Frauen“. Sie waren Angestellte eines Supermarkts. Für einige Augenblicke stand ich mit ihnen als einziger Kunde an der Kasse zusammen. Dabei erwähnte ich meine Nebentätigkeit als Lehrkraft in einem Privatinstitut, das in Abendkursen auf Prüfungen zu den drei staatlichen Schulabschlüssen vorbereitete.
„Auch fürs Abitur?“, fragte eine der Frauen.
„Ja, auch fürs Abitur“, bestätigte ich. „Interessieren Sie sich dafür?“
Beide Frauen nickten nur und sahen mich an. Der Blick der Frau, die neben ihrer an der Kasse sitzenden Kollegin stand, war abwartend, der Blick der anderen Frau kam mir scheu vor, als ob ihr Wunsch nach dem Abitur eine Übertretung bedeute. Kurzentschlossen sagte ich:
„Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen vom Institut erzählen … vom Abiturkurs. Wann haben Sie Mittagspause?“
„Dreizehn Uhr fällt bei uns der Hammer“, antwortete die stehende Frau.
„Passt es Ihnen, wenn wir uns in der Pizzeria hier am Bismarckplatz treffen?“, fragte ich.
Die beiden Frauen verständigten sich mit den Augen.
„Abgemacht!“, sagte die Frau, die an der Kasse saß, mit leiser Stimme.
Auf dem kurzen Fußweg nach Hause überlegte ich, worauf ich mich eingelassen hatte mit meinem Gesprächsangebot. Dabei wusste ich es: es war die Frau mit dem scheuen Blick und der leisen Stimme. Hätte mich nur ihre Kollegin nach dem Privatinstitut gefragt, hätte ich ihr wohl die Adresse genannt und bei Gelegenheit die Telefonnummer vorbeigebracht … Vorgestern hatte mir ein Doktorand Professor D.s etwas erzählt, das mir noch immer durch den Kopf ging. Der Doktorand hatte die Korrekturen und Anmerkungen von zwei Wissenschaftlern zum Großteil seiner zweihundertfünfzigseitigen Promotionsschrift eingearbeitet, es fehlten noch die restlichen dreißig Seiten, als er von einem Leiden am linken Auge befallen wurde. Die Augenärztin, die er nach zweitägigem Zögern konsultiert hatte, verbat ihm Sport, Lesen und Schreiben und schrieb ihn krank. Der vereinbarte Abgabetermin seiner Arbeit geriet in Gefahr. Er überlegte, was er tun könnte, aber es fiel ihm nichts ein. Seine Ehefrau war selbst mit Pflichten überhäuft und fachlich überfordert. Da erbot sich ein Freund, zu ihm zu kommen, die Korrekturen und Anmerkungen der zwei Wissenschaftler mit ihm durchzusprechen und das Typoskript mit den letzten dreißig Seiten neu zu erstellen. Die beiden hatten für ihre besondere Arbeit eines der vergangenen Wochenenden genutzt, an dem die Frau des Doktoranden mit der gemeinsamen, bald fünfjährigen Tochter zu Besuch bei ihren Eltern in Trier gewesen war. Buchstäblich das gesamte Wochenende war mit Vorlesen, Besprechen, Korrigieren und Neufassen des Textes verstrichen. Schließlich war die Arbeit am Sonntagabend beendet. Die Frau des Doktoranden kehrte mit der Tochter zurück. Der Freund verabschiedete sich. Das Typoskript der Promotion konnte fristgerecht bei der Universität abgegeben werden. Wenn diese Episode für sich schon bedenkenswert war, kam als Pointe hinzu, dass der hilfreiche Freund selbst augenleidend war und sich der außerordentlichen Anstrengung durch die Entzifferung der handschriftlichen Notizen der zwei Wissenschaftler und dem Tippen der letzten dreißig Seiten eigentlich nicht hätte unterziehen dürfen. Sie hatten deshalb immer wieder Pausen eingelegt, damit sich die Augen des Freundes erholen konnten.