Vom Kleinsten im Großen – Teil VI


Vom Kleinsten im Großen —

Betrachtungen zur menschlichen Genealogie, Teil VI

21.04. bis 14.05.2023

 

Exkurs, Fortsetzung

Im letzten Blogbeitrag kreisten meine Betrachtungen u.a. um mögliche Gefahren sowie diverse ethische Herausforderungen der Wissenschaften innerhalb des jeweiligen Forschungs-Bereiches. Auch wurden mögliche Gefahren, die von außen an sie herangetragen werden, kurz thematisiert. Nachfolgend soll der Wissenschafts-Missbrauch durch äußere Einflüsse anhand von markanten Beispielen dargelegt werden.

 

Wissenschaften stehen grundsätzlich in der Gefahr des Missbrauchs, nämlich im selben Moment, da sie ihre Freiheit und Unabhängigkeit freiwillig preisgeben, sei es, dass sich Wissenschaftler:innen als willfährige „Söldner:innen“ verdingen, sei es, dass sich Wissenschaften bereitwillig „in den Dienst einer Sache“ oder einer staatlich organisierten Macht stellen. Diese Gefahr wird anfänglich von außen an sie herangetragen. Kippt jedoch der Zeitgeist und die Öffentliche Meinung unter dem Druck eines gesellschaftlich-politischen Wandels, so ändert sich meist auch das „wissenschaftliche Ethós“, und die Wissenschaften spannen sich, meist ohne erkennbare Not, frei-willig vor den Karren der Herrschenden oder Geldgeber. So etwa im Raum einer fanatischen Staats-Religion (Iran, Saudi Arabien, etc.), einer menschenverachtenden Rassen-Ideologie (vergangene und gegenwärtige Ideologien der „wieder zu errichtenden Groß-Reiche“ => vgl. die Narrative der heutigen Rechtsnationalisten von einer „renovatio imperii“, der „Reinheit des Blutes“, etc.pp.), einer diktatorischen Staatsmacht (Russland, China, Türkei, Ungarn, Serbien, etc.) oder global agierenden Wirtschaftsmacht (Pharmariesen wie Pfizer, BASF; Agrarriesen wie Cargill, Archer Daniels Midland-Gruppe, Louis Dreyfus Company, Bunge, etc.). In all diesen Fällen wandelt sich freie Wissenschaft zur gekauften, prostituierten Wissenschaft oder aber zur fanatischen, blinden Wissenschaft. Denn sie liefert ihren Chefideologen bzw. Geldgebern die gewünschten Meinungen und Überzeugungen in Form von „wissenschaftlichen Studien-Ergebnissen“, und attestiert auf diese Weise deren Richtigkeit bzw. Unbedenklichkeit gegenüber den Verbraucher:innen und der Bevölkerung. Wohin diese Abhängigkeit einstmals führte, worin die Prostitution gekaufter Wissenschaftler:innen heute noch immer besteht, davon soll der nachfolgende Beitrag wenigstens skizzenartig handeln.

 

Nicht erst seit den 1930er Jahren biedern sich Wissenschaftler:innen verbrecherischen Regimen als willfährige Handlanger an oder unterstützen diese aus authentischer, patriotisch-ideologischer Überzeugung. Sie gaben seinerzeit die „Freiheit in Wissenschaft und Forschung“ zugunsten einer Ideologie, einer faschistischen bzw. nationalsozialistischen oder leninistisch-stalinistischen Weltanschauung, preis. Diese Ideologien wollten den „Neuen Menschen“ mittels Wissenschaft und Technik „erschaffen“; gleichzeitig wurde das Verbrecherische des Staats-Apparates unter wohlklingenden Euphemismen kamoufliert. So etwa wählte man im Großdeutschen Reich u.a. den bagatellisierenden, euphemischen Begriff der „Eugenik“ — aus dem Altgriechischen übersetzt, in etwa „gutes Geschlecht“, „gesundes Erbgut“ — für die „Forschungsarbeiten“ im Bereich der sog. „NS-Rassenhygiene“. Deren Theorien und Konzepte dienten der NS-Rassenideologie als quasiwissenschaftliches Fundament der „Arisierung“ (vgl. u.a. „Nürnberger Gesetze“, etc.). Und der wohlklingende Terminus „Euthanasie„, übersetzt in etwa „guter / schöner Tod“, diente während seiner ersten Phase u.a. der Zentraldienststelle T4 als Tarnung für deren Projekt „Aktion T4“ zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Dieser Terminus „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ war bereits seit 1920 im Umfeld der nationalen Eugenik-Bewegung en vogue. Er wurde von Alfred E. Hoche, einem Psychiater und Neuropathologen, gemeinsam mit Karl Binding, einem Strafrechtler, geprägt und in einer Broschüre propagiert. Bei der nationalsozialistischen „Euthanasie“ handelte es sich de facto um systematisch durchgeführte Krankenmorde. NS-Staat und Wissenschaftler argumentierten u.a., dass man in Krankenhäusern und Kliniken mehr Platz für verwundete Soldaten benötige; jedoch würden ganz generell diese körperlich und/oder geistig Behinderten sowie die psychisch Kranken ausschließlich Kosten verursachen, somit den Staatsseckel nur unnötig belasten und zudem dem Volkswohl keinerlei Nutzen bringen. Im Gegenteil. Der beschönigende Begriff der Euthanasie diente folglich als rassenideologischer Deckmantel zur Planung, Vorbereitung und schließlich Ausführung des systematischen Massenmordes an körperlich und geistig Behinderten, psychisch Kranken, an (Waisen-)Kindern sowie, erweitert als „Aktion 14f13“, der planmäßig ausgeführten Häftlings-Euthanasie. Die Anordnungen hierzu kamen direkt aus der Kanzlei des Führers. Die „Zentraldienststelle T4“ umfasste sechs Tarnorganisationen, die für die vorbereitende Logistik und Ausführung der Massenmorde zuständig waren. Die Dienststelle war räumlich von der Reichskanzlei getrennt. Ihre Einrichtungen befanden sich in der Berliner Tiergartenstrasse 4, daher das kryptische Kürzel „T4“. Im Großdeutschen Reich sowie seinen annektierten Gebieten fielen schätzungsweise über 200.000 Menschen dieser Vernichtungs-Ideologie zum Opfer (im eigentlichen Euthanasie-Programm von Jan. 1940 bis Sept. 1942 waren es wohl über 70.000 Menschen; danach, während der sog. „Wilden Euthanasie“ / „Aktion Brandt“, weitere 130.000 Personen). Nachdem die NS-Rassen-Ideologie allgemeines Gedankengut im Großdeutschen Reich geworden war, entwickelte sich aus der Euthanasie-Bewegung auf der sog. „Wannsee-Konferenz“ (20.Jan.1942) der Plan zur sog. „Endlösung der Judenfrage“. Der Holocaust, also die systematische Vernichtung menschlichen Lebens im industriellen Maßstab, nahm gedanklich wie auch organisatorisch Form und Gestalt an.

Doch retour zum staatlich-ideologischen Wissenschafts-Missbrauch sowie seinen Wissenschafts-Profiteuren. Welche Rolle spielten Ärzte, Krankenschwestern, Forscher, u.a.m. in dieser menschenverachtenden Epoche des Großdeutschen Reiches? Die Patienten:innen der T4-Tötungsanstalten Bernburg, Hadama, etc. sowie der Landesanstalt Görden und 30 weiterer Anstalten wurden unter Mithilfe von leitenden Ärzten und Krankenschwestern planmäßig und systematisch ermordet. Der geleistete „Eid des Hippokrates“ verursachte diesen NS-Ärzten:innen keinerlei Gewissensbisse noch irgendwelche Skrupel. Im Gegenteil. Sie wähnten sich „im Dienst einer großen, patriotischen Sache“. Ihr ärztliches Ethós war in Richtung Zeitgeist und NS-Ideologie gekippt. Die entnommenen Gehirne, das Rückenmark, etc. der ermordeten Patienten:innen, Häftlingen und Kinder wurden als „Organspende“ diversen deutschen Hirnforschern zwecks Forschungs-Arbeiten zur Verfügung gestellt, u.a. Hugo Spatz sowie Julius Hallervorden. Beide Mediziner und Forscher gehörten zur absoluten deutschen Forscher-Elite um Alfred E. Hoche (Neuroanatom, Neuropathologe) und Walther Spielmeyer (Neuropathologe, Psychiater, Neurologe), die mit ihren Forschungs-Instituten und -Teams weltweites Ansehen genossen. Hugo Spatz war ab 1935 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, ab 1938 NSDAP-Mitglied. Er selbst sowie sein Abteilungsleiter, Julius Hallervorden, waren von 1940-45 maßgeblich an der Zuteilung und Verwertung der entnommenen Organe beteiligt gewesen. Es heißt, dass ihre Präparate-Sammlungen über 700 Gehirne aus dem T4-Programm umfasste. Beides Forscher und Wissenschaftler, die aus patriotisch-ideologischer Überzeugung diese Massenmorde für richtig erachteten und sich über die entstehenden Präparate-Sammlungen freuten. Sie sahen darin ausschließlich ungeahnte Chancen für ihren Wissenschaftsbereich (Hirnpathologie, Histologie, etc.pp.), nicht jedoch eine Vielzahl unterschiedlicher Verbrechen, die es de facto waren. Der „Geist“ des renommierten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung war im vorherrschenden NS-Zeitgeist aufgegangen. Und es waren die selben Forscher und Wissenschaftler, die teilweise nach dem Zweiten Weltkrieg als „Honoratioren“ völlig unbehelligt in Deutschland leben, arbeiten und erneut hohe Ämter begleiten konnten. Ihre Mittäterschaft im NS-Regime war in Mediziner-Kreisen durchaus bekannt, wurde jedoch geflissentlich ignoriert. So konnten von 1948-1961 etwa besagter Hugo Spatz und Julius Hallervorden als Leiter verschiedener renommierter Max-Planck-Institute für Hirnforschung (in Gießen, Frankfurt am Main, etc.), völlig unbehelligt ihrer Wege gehn und das, obschon sie unmittelbar in die „T4“-Massenmorde verstrickt waren. Zudem wurde Spatz 1960 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Immerhin ein erlauchter Kreis von heute 187 Nobelpreisträger:innen. Auf diese Weise wurden in der jungen Bundesrepublik aus einstigen NS-Wissenschaftlern und T4-Tätern, unter dem Siegel der honorigen Verschwiegenheit, erneut Wohltäter, die „dem Gemeinwohl verpflichtet“ waren…— Erst in den 1980er und 90er Jahren begann man die historische Aufarbeitung dieses düsteren Medizin- und Forschungs-Kapitels.

 

Rückbindung an den Exkurs — Preisgabe der Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft bei gleichzeitigem Missbrauch durch Ideologien bzw. diktatorische Staaten. Waren Hoche, Spatz, Hallervorden, et al. bloß Monster und skrupellose Straftäter — waren sie gewissenlose Opportunisten ihrer Zeit? Waren sie selbst vielleicht „auch nur Opfer“, die lediglich „zum Wohle der Allgemeinheit“ forschen wollten? Und ist es nicht besonders obszön, dass bis Ende der 1970er Jahre niemand Anstoß daran nahm, dass die deutsche Gehirnforschung völlig fraglos die Präparate-Sammlungen der NS-Zeit für ihre Forschungsarbeiten weiter nutzte…??

Stellen wir uns für einen kurzen Moment einmal jene Geisteshaltung, jenen Habitus, der o.g. Mediziner, Forscher und Wissenschaftler vor: Da sind zum einen junge, aufstrebende Mediziner, die bei den renommiertesten Forschern und Wissenschaftlern ihrer Zeit studieren können und alsbald selbst eine bahnbrechende Forscherkarriere beschreiten werden. Da sind zum anderen ebenjene Forscher, Entdecker und Wissenschaftler von Weltruhm: Franz Nissl, Alfred E. Hoche, Alois Alzheimer, Emil Kraepelin, Walther Spielmeyer, Oswald Bumke, u.v.a.m. . Jeder Einzelne hat bereits wegweisende Forschungs-Arbeiten im Bereich der Hirnforschung, der Hirnhistologie, der Hirnpathologie oder Psychopathologie vorgelegt. Sie stehen anfang des 20. Jahrhunderts an den Grenzen einer völlig neuen Wissenschafts-Linie: Der terra incognita des menschlichen Gehirns und der Psyche. Wer unter diesen Koryphäen (mit)arbeiten darf, ist auf dem Sprung in die absolute Weltspitze. So studiert besagter Hugo Spatz (1888-1969) zunächst bei Franz Nissl, in dessen Laboratorium er ab 1908 mitarbeitet. Ab 1909 wird Spatz Mitarbeiter in der anatomischen Abteilung der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München unter Emil Kraepelin. Dieser wiederum arbeitet mit Franz Nissl und Walther Spielmeyer, dem Leiter der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ (Kaiser-Wilhelm-Institut, Berlin), eng zusammen. 1923 habilitiert Spatz in Psychiatrie; 1926 wird er Oberarzt unter Oswald Bumke, der Kraepelin-Nachfolger in München wurde, und 1927 wird Spatz außerordentlicher Professor ebenda. Im selben Jahr (1927) wird Hugo Spatz zusammen mit Julius Hallervorden Mitglied im Forscher-Team von Walther Spielmeyer (Berlin) und damit Teil dieser erlauchten Experten-Gemeinschaft. Ich hebe diesen Fakt nur deshalb hervor, um zu zeigen, wie bereits damals wissenschaftliches Können und Engagement, berufliche Ambitionen und persönliche Beziehungen zu Forscher-Eliten wesentliche Bestandteile von jungen Forscher-Karrieren waren. Es sollen damit ausdrücklich nicht die später begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit relativiert oder gar entschuldigt werden. Diese „Verbrechen im Namen der Medizin“ bleiben als Straftat monströs und ungeschmälert. Spatz und Hallervorden waren des Massenmordes an Patienten:innen und Kindern schuldig. Punkt. Jedoch, spiegeln wir diesen Enthusiasmus und Euphorie, Mitglied einer weltweit führenden Forscher-Elite zu sein, in unsere heutige Zeit herüber, so lässt sich zurecht fragen, welcher Medizin-Student, welcher Techniker, welcher Informatiker bzw. Programmierer würde sich eine solche Chance entgehen lassen, wenn er in der Crème de la Crème der Genomik, wenn er in der Techniker-Elite der KI, wenn er im „Team-Google“, im „Team-facebook“, etc.pp. mitarbeiten dürfte / könnte? Wie fühlt sich das an, wenn man weiß, dass man zur absoluten Weltspitze auf einem Forschungs-Gebiet gehört und Mitglied einer bahnbrechenden Forscher-Gemeinschaft ist, die die menschliche Zukunft völlig neu gestaltet, ja geradezu revolutioniert…—? Wohin katapultiert dieses Wissen das eigene Selbstwertgefühl, wenn man realisiert, dass man Mitarbeiter und Mitgestalter an einer kulturellen, technischen Revolution der menschlichen Evolution ist? Macher und Gestalter einer unumkehrbaren Zeitenwende, wie einstmals die Erfindung des Rades, des Schießpulvers, des Buchdruckes, der IT-Technik…— Gewiss, Risiken, Gefahren und Chancen tun sich vor dem geistigen Auge auf, zuhauf. Dennoch gibt man sich dem Schwung, der Begeisterung, diesem ganzen Enthusiasmus und Hype bedenkenlos hin, und überlässt die erforderlichen „Grenzziehungen“, die notwendigen Einschränkungen, entweder anderen oder aber einer ferneren „Zukunft“. Etwa in der Geisteshaltung: „Die Zukunft wird’s schon regeln…“ Man selbst will forschen, nur das ; um jeden Preis! Dabei wird nur allzu gerne außer Acht gelassen oder nicht bedacht, dass die erreichte Realität Tatsachen erschaffen könnte, hinter die es kein Zurück mehr gibt…— Man will und fordert „absolute Freiheit“ in Forschungs-Bereichen, in denen es nur „relative Freiheiten“ geben darf. Denn des Menschen Neigungen und Eitelkeiten sind die eigentlichen Gefahren-Potentiale innerhalb der Gefahr, damals wie heute. Meines Erachtens sind es die hunderttausend kleinen, alltäglichen Schritte, weg von einer ethischen Grundhaltung eines Forscher-Ethós, hin zum alltäglichen Argumentieren im Rahmen einer Mode, eines gerade herrschenden Zeitgeistes, einer bedenkenlosen Beliebigkeit, die die eigentliche Gefahr innerhalb der Gefahren-Cluster, denen Forschungen im äußersten Grenzbereich ausgesetzt waren und sind, immer wieder darstellen. Gegen diese persönlichen und durchaus verständlichen Neigungen und Eitelkeiten gilt es das wissenschaftliche Ethós zu bewahren und zu bewehren. An dieser Grenze ent-scheidet sich immer wieder aufs Neue die menschliche Zukunft.

Und weiter: Eine (verbrecherische) Vergangenheit, die nicht zwecks Aufarbeitung tagtäglich „vergegenwärtigt“ wird, und deshalb wie eine untergehende Sonne hinter den Horizont des Vergessens zu sinken droht, trägt in sich bereits die nächste Katastrophe historischen Ausmaßes. Denn was in den 1930er und 40er Jahren noch eher ein pervertiertes Rasse-Wunsch-Denken auf der Ebene der „Mendelschen Regeln“ (veröffentlicht 1865) war, das könnte heute mittels Genomik Realität werden: zeitgeistgemäße „Visionen“ — vor allem jedoch: Versionen! — eines gentechnisch durchgestylten „Designer Menschen“. Ein Faustischer Pakt aus molekularer Wissenschafts-Technik in Kombination mit reanimierten, ideologischen Großmachts-Träumen (vgl. diesbzgl. Forschungen im Bereich des Genome-Editing in China, He Jiankui, 2018/19; Forschungen in Russland, Denis Rebrikov, 2019).

 

Nicht nur im Bereich von Forschung und Wissenschaft bedarf es ethischer Grund- u. Leitsätze. Sie sind es, die ein geordnetes Zusammen-Leben / Zusammenleben erst ermöglichen. Alle Kulturen und Gemeinschaften gründen darin, aber auch die verschiedenen „Berufsstände“ (z.B. der Ärzte, der Richter, Rechtsanwälte, Notare; ferner die verschiedenen Gewerke, etc.pp.). Ob nun „Berufsstand“ oder handwerkliche Zünfte / Innungen: sie alle eint ein spezifisches Berufsethós.

Ethische Grundsätze und Prinzipien machen als Appell aber nur dann einen Sinn, wenn sie im Alltag als Handlungs-Maxime auch gelebt werden — sei es von Privatpersonen, sei es in der Ausübung eines Berufes. Vergleichbar des Kantischen „Imperativs“. Es sind noch immer die vier Fragen, die Immanuel Kant einstmals zukunftsweisend stellte: 1. Was kann (heute: darf) ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich erhoffen? 4. Was aber ist der Mensch (der Wissenschaftler, der Forscher, der Richter, der Bäcker, etc.pp.)? Wissen und Ethik dienen einer menschen-gerechten, humanen Zukunft. Die ethischen Fragen und Maximen sind die „Leitplanken“ einer sinnvollen, vernünftigen Eigen-Verantwortung sowohl in Forschung und Wissenschaft als auch im alltäglichen Leben. Sie weisen uns den Weg. Wir können ihn beschreiten; wir können ihn verlassen. Gleichviel, ob als Forscher und Wissenschaftler, ob als Mediziner oder Techniker, ob als ITler oder KI-Guru, oder als „Otto Normalverbraucher:in“. In Abwandlung eines Jaspers-Wortes können wir sagen: Ethik und Eigenverantwortung sind nicht ohne einander. Sie bedingen sich wechselseitig; sie bringen sich gegenseitig voran. Dabei gilt: Es gibt eine Ethik für den unmittelbaren Nahbereich sowie eine Ethik mit Fernverantwortung für das jeweilige Tun (vgl. Hans Jonas, Prinzip Verantwortung,  1979). Verkürzt formuliert: Im „Nahbereich“ gelten u.a. Gebote wie etwa: Du sollst nicht töten.  Für die Fernverantwortung gilt u.a.: Handele heute so, dass Dein Tun die Umwelt vor Zerstörung schützt und bewahrt, die Natur möglichst unversehrt und intakt bleiben lässt, der Mensch als Spezies eine humane und gerechtere Zukunft als „realen, gangbaren Weg“ vor sich hat. Ethische Maxime gleichen hierin Idealen, nach denen wir streben sollen / können. Wir würden sie missverstehen, wenn wir annehmen würden, dass diese Maximen erreichbare Ziele  postulieren würden. Etwa das erreichbare Ziel des „Weltfriedens“ oder der „sozialen Gerechtigkeit“ (die Kernutopien der Kommunismus-Ideologie). Beides durchaus erstrebens-werte Realitäten, sind sie nur in der U-topie, dem Nicht-Ort innerhalb der Welt, ‚erreichbare Ziele‘. Anders gesagt: Der Daseins-Ort von Idealen und ethischen Maximen ist die Theorie in Form einer Utopie, ist Fiktion, ist Wunsch-Denken; ihr Handlungs-Ort als Anleitung eines vernünftigen Strebens ist unsere alltägliche Realität. Denn zu allen Zeiten war es Sinn und Zweck von Idealen bzw. ethischen Grundsätzen: Dass  sie einem ethischen Polarstern gleich, dem Menschen im Alltag Richtung sowie Orientierung verleihen und uns einen gangbaren Weg in eine menschen-würdige Zukunft weisen. Dieser Weg der Kultur reicht von den „10 Geboten“ über Platons „Erós“-Mythos (dem unablässigen Streben  nach Wahrheit, nach dem Guten…) weiter zur Kantischen Ethik bis zu den modernen Ethiken unserer Zeit. Ethische Grundsätze bilden den „sozialen Kitt“ von Gemeinschaften wie auch komplexeren Gesellschaften. Sie lassen sich bereits in Frühformen der Stammesgesellschaft belegen; sie dienten den Großreichen der Griechen / Makedonen, der Römer, der Perser, wie der Mongolen als staatstragende Einheiten; sie finden sich heute als Grundlage jeder Demokratie (z.B. in Grundgesetzen, Menschenrechten, etc.pp.).

 

Doch retour zum Exkurs. Nun gibt es aber nicht nur unter ideologischen Gesichtspunkten Gefahren und Missbrauch von Wissenschaft und Forschung, sondern es gibt inzwischen eine quasi-wissenschaftliche Industrie von „Wissenschafts-Experten:innen“, die sich als Söldner:innen „Globalplayern“ anbiedern, und auf jede wissenschaftlich fundierte Kritik eine „Kontra-Studie“ mit „Unbedenklichkeits-Attest“ veröffentlichen. So war es seinerzeit bei Philip Morris (Tabakkonzern, Zigarettenkonsum), Monsanto (GenTech- und Spritzmittelhersteller, u.a. Glyphosat), und anderen — so ist es heute noch immer bei Pfizer (Pharmakonzern, z.B. im Bereich der Statinen), Bayer CropScience (Neonicotinoide in Spritzmitteln => Insektizide), u.a.m. . Ohne Not, aus rein persönlicher Habgier bzw. Karriere-Ambitionen. Es geht um Gewinnmaximierung, nicht um Verbraucher- bzw. Patientenschutz. Anstelle eines wissenschaftlichen Ethós gilt hier die Maxime: Pecunia non olet! (Geld stinkt nicht!) Dieser Bereich soll nachfolgend anhand einiger Fallbeispiele aufgezeigt werden.

 

— Fortsetzung folgt —