Vom Kleinsten im Großen — Teil II


Betrachtungen zur menschlichen Genealogie, Teil II

Vom Kleinsten im Großen —

Betrachtungen zur menschlichen Genealogie, Teil II

13.03. bis 16.03.2023

 

Frühere Jahrhunderte und Menschen-Generationen, die weder methodisch, noch wissenschaftlich, noch technisch auf dem heutigen Niveau unserer (Nano-)Wissenschaften waren, standen ebenfalls staunend vor dieser Vielfalt der Natur. Sie erklärten ihre „Welt“ lediglich anders, nämlich anhand von Erzählungen und Mythen (vgl. u.a. Platons „alte pythagoreische Rede“, gr. „palaios logos“, in seinem philosophischen Dialog Phaidon, Kap. 15). Diese „Geschichten“ transportierten eine „verborgene Wahrheit“, und es oblag dem einzelnen Zuhörer oder Leser, diese verborgene Wahrheit als das im Sagen Un-Gesagte zu entbergen. Anstelle der DNA und ihrer Variations-Möglichkeiten sprachen sie von einem „göttlichen Wunder der Natur“, und anstelle der DNA-Struktur und ihrer Sequenzen sprachen sie damals von einem „göttlichen Bauplan“. Dieser Welten-Bauplan, der sich den Sinnen als gegenständliche Welt so greifbar darbot, blieb dem Erkenntnis-Vermögen des Menschen jedoch verborgen, unergründlich, unfassbar, gleichsam im Dunkel eines Nicht-Wissens geborgen und daher den forschenden Wissenschaften auf rätselhafte Weise „kryptisch“. Gleichwohl, so glaubte man, beruhe auch dieser „göttliche Plan“ auf einer universellen, durchgängigen Struktur, einem „Prinzip“, das alles Seiende durchwalte, vernünftig und systematisch ordne, und das jedwedem Ding und Lebewesen innerhalb einer „Schöpfungs-Geschichte“ seinen spezifischen Ort in der Rang-Ordnung einer göttlichen Hierarchie zuwies. Den Ursprung des Planes wie auch der Hierarchie verortete man seit der Antike im Allwissen eines Gottes, während man — spätestens seit Platon— in den Wissenschaften des Menschen ein bruchstückhaftes Partikular-Wissen versammelt sah, das zudem auf einer Teilhabe am göttlichen Wissen beruhen sollte (vgl. Platon Symposion, „Diotima-Dialog“). Erst Platons Schüler, Aristoteles, wird des Menschen Erkenntnis-Vermögen, sein Wissen, und somit die menschen-mögliche Wahrheit auf das Fundament einer logischen Methodik stellen. Zwar wurde auf diese Weise der Ort der Wahrheit aus dem „Himmel“ auf die „Erde“ und in den Menschen verlagert. Aber dessen ungeachtet blieb die antike Vorstellung noch über Jahrhunderte fortbestehen, dass Gott der „Allwissende“, der „Allweise“, sei und damit ineins sein Wissen per se als Grenzen-los, ohne Anfang noch Ende, während des Menschen Wissen und Wissenschaft weiterhin als endlich, als begrenzt, als vergänglich erachtet wurde. Jedoch dachte man sowohl das menschliche Wissen als auch den Kosmos der menschlichen Wissenschaften fortan in einem kontinuierlichen Annäherungs-Prozess an jene göttliche Weisheit (siehe hierzu u.a. den Begriff der „philosophia perennis“).

En passant, es ist der alte Streit zwischen Theologie und Offenbarungs-Religionen auf der einen Seite; ihnen wurde per Offenbarung die „göttliche Wahrheit“ zuteil. Eine Vorstellung, die implizierte, dass jene „offenbarte Wahrheit“ identisch mit „absoluter Wahrheit“ sei. Sowie auf der anderen Seite die forschende Wissenschaft, die via logischer, systematischer Methodik eine fortschreitende An-Näherung an eben jene göttliche Wahrheit erst zu entwickeln suchte. Da ihre Wahrheit aus dem Erkenntnis-Vermögen des Menschen stammte, war sie per se „relative Wahrheit“. Erstere „hatten“, Letztere „suchten“ — ein Streit zwischen den Fakultäten, der bis ins 20. Jh. dauerte (vgl. etwa die Auseinandersetzung zwischen dem ev. Theologen Karl Barth und dem Existenzphilosophen Karl Jaspers).

Interessant ist m.E., dass sowohl Theologie als auch die (Natur-)Wissenschaften über Jahrhunderte hinweg eine spiegelbildliche Vorstellung von „Gottes-Erkenntnis“ und „Welt-Erkennen“ vertraten, von „göttlichem Bauplan“, der stets auch „Heilsplan“ war, und menschlichem, systematisch gegliedertem Bescheid-Wissen über die „Welt“, das auf ein „Universalwissen“ zustrebte; niemals fertig zuhanden, da kontinuierlich im Werden. So etwa bediente sich die frühe christliche Theologie in der heidnischen Vorstellungs-„Welt“ von Platon, Plotin sowie der Stoà und des Neuplatonismus (vgl. Kirchenväter des 1.-6. Jh.), während die Theologen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit die aristotelische Logik für ihre „Gottes-Beweise“ nutzten (vgl. u.a. die Theologie der Scholastik; Thomas von Aquin [1225-1274], et al.). Andererseits suchten Natur- und Geistes-Wissenschaftler bis ins 20. Jh. hinein nach einer „göttlichen Formel“ zur Entschlüsselung der „Welt“. Eine „Urbild“-„Abbild“-Vorstellung, die sich als Leit-Theorie in den voranschreitenden und sich kontinuierlich ausdifferenzierenden Wissenschaften von der Antike bis in die jüngste Neuzeit durchhielt. Hantierten denn nicht Gott wie Mensch mit „Ursachen“ und „Wirkungen“, mit „Formeln“, „Gesetzen“ und „Plänen“? Auf der einen Seite, jene der Theologie, ein „göttlicher Welten-Plan“, ein „Welt-Gesetz“, eine „Welten-Formel“, u.ä.m. — das war die Krondomäne der Theologie, vor allem jedoch die unumstößliche Macht-Basis der Kirchen, die die Welt sowie deren Sinn aus dem Offenbarungs-Glauben heraus interpretierten. Auch sie stellten „letzte Fragen“, wie etwa im Bereich der Geisteswissenschaften die Philosopie im Raume der Metaphysik; auch sie suchten nach der „ersten Begründung“ — aber ihre Antworten auf all dieses Fragen fanden sie bereits vorgefertigt in der „Heiligen Schrift“, der Bibel, etwa im Buch Genesis. Diese gab, wie heute der Koran, Antworten auf alle Fragen des Lebens — so die theologische Behauptung. Auf der anderen Seite das menschliche Abbild als „adaequatio intellectus et rei“ der Wissenschaften — diese berechneten und bewiesen die sichtbare Welt und den gestirnten Himmel über uns. Anstelle des Jahrhunderte alten geozentrischen Welt-Bildes der Schöpfungs-Geschichte, setzten Kopernikus, Galilei, Tycho Brahe und vor allem Kepler kraft ihrer mathematisch-physikalischen Formeln das heliozentrische Weltbild, das die Sonne als Zentralgestirn des Planetensystems bewies, worum die Erde und die Planeten auf elliptischen Bahnen kreisen, oder dass die Erde rund ist, und nicht scheibenförmig, u.v.a.m.. Nach und nach trat der geglaubten, logischen (!) Theorie der Theologie eine methodisch begründende sowie exakt berechnendeTheorie der (modernen) Wissenschaften ent-gegen und beanspruchte den Primat sowie die maßgebliche Deutungshoheit, sofern die Themen „Welt“ / „Erde“ (vgl. u.a. die jeweiligen Fachbereiche der Astronomie, Geologie, Geodäsie, Chemie, Physik, etc.pp.), „Mensch“ (Fachbereiche der Humanmedizin, Humanbiologie, Archäologie, Pharmazie, etc.pp.) und „Sinn“ (Fachbereiche der Philosophie, Psychologie, etc.) hießen. Dem theologischen „Welten-Plan“ trat der wissenschaftliche „Plan der Atomphysik“ ent-gegen; dem biblischen „Welt-Gesetz“ die chemischen bzw. physikalischen „Natur-Gesetze“; der geglaubten und lediglich behaupteten „Welten-Formel“ der Beweis anhand methodischer Berechnung in „naturwissenschaftlichen Formeln“. Über Jahrhunderte hinweg emanzipierten sich die „profanen“ Wissenschaften gegen-über der Theologie als höchste Disziplin. Das geflügelte Wort der „Philosophia ancilla theologiae“, das seit der Scholastik als unumstößlich galt, welches besagt, dass die Philosophie und mit ihr alle übrigen Wissenschaften lediglich zweitrangig gegenüber der Theologie seien, war von der Realität überholt und ad acta gelegt worden. Doch selbst spätere Wissenschafts-Koryphäen wie die beiden Physik-Nobelpreisträger Max Planck (1858-1947; Nobelpreis für Physik, 1918) und Albert Einstein (1879-1955; Nobelpreis für Physik, 1921) versuchten, nach je eigenem Verständnis, mit ihren mathematisch-physikalischen Formeln jene „Weltformel“, jenen „göttlichen Bauplan“, zu berechnen bzw. zu entschlüsseln. Das heißt, sie trugen als Mensch noch immer ein christlich-jüdisches Welt-Bild in sich, das sie zum Forschen motivierte. Beide Physiker kamen innerhalb ihrer Forschungs-Richtung und Wissenschaft immer wieder an jene Grenzen, da sich eine schier endlose Weite vor ihrem geistigen Auge auftat, die sie als Wissenschaftler und Mensch ins Staunen versetzte und zum forschenden Hinter-Fragen, zum Voran-Schreiten, zum Trans-scendieren, einlud. Der Physiker rechnete und berechnete — der Mensch jedoch staunte und glaubte. Warum ist dies überhaupt einer Erwähnung wert? Weil in o.g. Beispiel der jüdisch-christliche Glaube, die Kultur, das „ethós“ den Physiker als Forscher sicherte, d.h. Einstein und Planck behielten zeitlebens ihre „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer). Eine wesentliche Ehrfurcht, die heute in weiten Teilen der naturwissenschaftlichen Forschungsbereiche, im sog. „Wissenschaftsgetriebe“, verloren gegangen ist. Die Gefahr hierbei: Verliert der Mensch seine Fähigkeit und Eigenheit zu staunen und zu glauben, so verliert er zugleich auch sein „Herz“ (vgl. Blaise Pascal) und sein „Wesen“. Er wird „kalt“, ein „Rechenschieber“, ein „Algorhitmus“. Wesentlicher als der Forscher und Wissenschaftler ist jedoch der Mensch. Dieser ist „Existenz“ (Jaspers), während jener lediglich eine Funktion und Rolle in der Gesellschaft, der Wissenschaft, übernimmt. Letzterer ist austauschbar, Ersterer nicht.

 

— Fortsetzung folgt —