Große und kleine Geschichten


Große und kleine Geschichten

Teil 1

  

Ich war drei Jahre und fünf Monate alt, als die Kuba-Krise, wie es heißt, die Welt in Atem hielt. Papst Johannes XXIII. gab sein Bestes, um das Ende der Menschheit in den Blitzstrahlen atomarer Vernichtung durch Gebete, Aufrufe und Diplomatie abzuwenden. John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow ließen sich bereden, sei es durch die Gebete, Aufrufe und Diplomatie des Papstes, sei es durch die Einsicht, dass dem eigenen verheerenden Erstschlag umgehend der verheerende Zweitschlag des Feindes gefolgt wäre.

Bereits dreizehn Monate später, am 22. November 1963, konnte ich das nächste Kapitel Weltgeschichte erleben: Mein ältester Bruder Herbert (Jahrgang 1951) kam aufgeregt zur Haustür herein. „Der amerikanische Präsident Kennedy ist erschossen worden!“ rief er. Meine älteren Geschwister wollten es kaum glauben. „Ach, komm!“ sagten sie. Herbert drängte ins Wohnzimmer und drückte auf den Einschaltknopf des Fernsehers. Das Schwarz-Weiß-Programm – ARD oder ZDF; etwas anderes gab es nicht – bestätigte, was Herbert gesagt hatte: Der amerikanische Präsident Kennedy war erschossen worden. Es war noch nicht lange her, knapp fünf Monate, dass Kennedy in Berlin gewesen war und an der Seite des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt sein berühmtes „Ich bin ein Berliner“ gesprochen hatte. Das hatte ich selbstredend als kindlicher Zeitzeuge auch erlebt am Schwarz-Weiß-Fernseher, aber meine Erinnerung daran weht nur noch als ein Schatten durch das entsprechende Areal meines Gehirns. Die Art und Weise jedoch, in der Herbert ins Haus trat und die Nachricht von der Ermordung Kennedys verkündete, liegt als gut erkennbarer Filmstreifen abgespeichert in meinem Kopf.

Am 25. April 1967 wurde der ehemalige Bundeskanzler Adenauer beerdigt. Aus irgendeinem Grund hielt ich mich im Haus meiner Großmutter in der Flörsheimer Altstadt auf. Wahrscheinlich lief im Radio in der Küche ein Bericht über das Thema des Tages. Die Großmutter machte ein ernstes Gesicht und sah vor sich hin. „Heute wird Adenauer beerdigt“, sagte ich. Die Großmutter sagte „ja“. Sie schickte mich bald nach Hause. (Ein Zuhause war das nicht, aber das ist eine andere Geschichte.) Mein Weg von der Flörsheimer Altstadt zur „neuen Siedlung“ führte mich über den Friedhof (mit dem Grab meiner Mutter). Sofort fiel mein Blick auf einen katholischen Geistlichen im Priestergewand; umgeben von Messdienern und einer Schar Trauernder stand er an einem wahrscheinlich offenen Grab. Ich erschrak, machte auf der Stelle kehrt, lief zurück zum Haus meiner Großmutter und klingelte. Meine Großmutter sah aus dem Küchenfenster. „Auf dem Friedhof wird Adenauer beerdigt!“ rief ich. Meine Großmutter beruhigte mich. Ich glaube, sie kam aus der Wohnung hinunter zu mir auf die Gasse. „Geh nach Hause, Bub! Adenauer wird nicht auf unsrem Friedhof beerdigt.“

So könnte ich fortfahren: die geschichtlichen oder sogar weltgeschichtlichen Ereignisse seit meiner Kindheit Revue passieren lassen in der Brechung meiner persönlichen Erfahrung. Spannender wird es mit einer zweiten Ebene. Mein Mentor in meinen Internatsjahren in den Siebzigern lebte von 1907 bis 1985. Er ist für mich eine Quelle permanenter Inspiration geblieben. Auch jetzt wieder, für dieses Reiseabenteuer durch unsere verschiedenen Lebenszeiten, die – den Göttern sei Dank! – eine Schnittmenge aufgewiesen haben.

Als mein Mentor drei Jahre und einen Monat alt war, am 19. Mai 1910, passierte der Halleysche Komet die Erde und löste vielfache Neugier, aber auch breite Ängste vor dem Weltuntergang aus. Zu Letzterem hätte es vielleicht kommen können bei einer Kollision, die jedoch nicht zu befürchten war. Im Jahr 1986 flog der Komet wieder an der Erde vorbei. Das habe ich, siebenundzwanzigjährig, bewusst erlebt. An geringe Neugier in meinem Umfeld erinnere ich mich, größere Neugier dagegen in der wissenschaftlichen Welt, wie ich der Presse entnehmen konnte. Von Ängsten sprach niemand mehr. Mein Mentor war im voraufgegangenen Jahr gestorben. Wenn der Halleysche Komet voraussichtlich wieder die Erde besuchen wird, im Jahr 2061, werde ich mit meinem Mentor einen himmlischen Dialog führen können über das kosmische Phänomen. Es ist anzunehmen, dass mein Mentor an das spektakuläre Auftauchen des Himmelskörpers im Mai 1910 genauso wenig eine eigene Erinnerung haben mochte wie ich im beinahe gleichen Alter an die Kuba-Krise. Erkenntnisse über die chemischen Bestandteile des Kometen wie Kohlenstoff, Stickstoff usw. oder den Materieverlust des Kometen beim Durchgang durch den der Sonne am nächsten liegenden Punkt auf der Umlaufbahn – Perihel genannt – wären wohl kein Gegenstand unseres Gesprächs gewesen, hätten wir uns jemals über den im Laufe eines Menschenlebens gewöhnlich nur einmal auftauchenden kosmischen Besucher unterhalten. Wir waren geisteswissenschaftlich orientiert. Was hat es mit dem Halleyschen Kometen an sich auf sich? hätten wir uns gefragt. Als Unglücks- oder Glücks-Bote wurde er im Laufe der Jahrhunderte in Anspruch genommen. Der Wunsch des Menschen nach Sinn und großem Zusammenhang – bis in die Weiten des Alls – drückt(e) sich darin aus, auch in der Befürchtung eines Unglücks oder in der nachträglichen Zuschreibung eines Unglücks an die Adresse des Kometen. Wenn mein Mentor und ich beim Tee zusammensaßen und im Gespräch einmal schwiegen, gemeinsam schwiegen – sannen wir dann nicht ebenfalls dem Sinn und großen Zusammenhang nach ganz unabhängig vom Halleyschen Kometen?

 

Fortsetzung folgt