Regietheater


Regietheater

Gestern besuchte ich nach einigen Jahren wieder eine Theatervorstellung. Ich hatte befürchtet, dass mich die gleiche Atmosphäre umfangen könnte, die mir damals schon missfallen hatte hinsichtlich der Mittel der Inszenierung, worunter ich Eingriffe in das Stück und das Gebaren der Schauspielerinnen und Schauspieler verstehe. Damals war es „Hamlet“ gewesen, gestern „Kabale und Liebe“. Meine Befürchtung bestätigte sich, ich saß wieder im gleichen Stück – oder sagen wir: beinahe im gleichen Stück. Die Ingredienzen der Regisseure und Regisseurinnen, mit denen sie seit vielen Jahren beinahe immer wieder das gleiche Stück auf die Bühne des Staatstheaters zwingen, bestehen darin, dass sie die Textvorlage eines Klassikers (etwas anderes als Klassiker habe ich freiwillig nie angesehen) schätzungsweise um die Hälfte kürzen und mit ihrem eigenen Senf füllen. Diesen eigenen Senf halten sie offensichtlich für mindestens genauso ohr- und gehirngängig wie Shakespeare oder Schiller. Bei mir ist es umgekehrt: ich würde gerne auf den Senf der Regisseure und Regisseurinnen verzichten und stattdessen den ganzen Shakespeare oder den ganzen Schiller erhalten. Die Regisseure und Regisseurinnen sind aber völlig unbekümmert, was ihren eigenen Senf betrifft; immer wieder quetschte sich dieser Senf durch die Verse Hamlets und die Sprache der Luise Miller und ihres Ferdinands. Dass Regisseure- und Regisseurinnen-Senf nicht zu Shakespeare oder Schiller passt, sollte klar sein, aber weder die Truppe, noch die Zuschauerinnen und Zuschauer störten sich daran; im Gegenteil: alle dachten, es müsste so sein, Shakespeare oder Schiller könnte man heutzutage nur noch aufführen, wenn sie mit ordentlich viel Senf der Regisseure und Regisseurinnen durchdrungen seien. Diesen Eindruck musste ich jedenfalls gewinnen, als ich gestern die Reaktion des Publikums bei der Pause mitanzuhören hatte: Der Vorhang – ein Metallgeflecht – senkte sich, das Publikum klatschte und gab Töne der Begeisterung von sich, welche die Truppe jenseits des Metallgeflechts ermutigen sollte so fortzufahren wie bisher; soll heißen: mit ordentlich viel Senf der Regisseure und Regisseurinnen.

Unter Luise habe ich mir nach Lektüre des Schiller-Stückes eine scheue, zurückhaltende, sogar etwas ängstliche junge Frau vorgestellt, die bis über beide Ohren in Ferdinand verliebt ist, des Präsidenten Sohn. Im Laufe des Stückes und den Erfahrungen, die sich dabei auf ihr Denken und ihre Seele legen, bekommt sie jedoch Zweifel, ob die Wahrheit ihres Gefühls ausreicht gegen eine widerstreitende übermächtige Welt. Sie verfällt in bitteren Realismus und will resignieren. Luise wandelt sich also. Welche Luise erlebte ich dagegen gestern auf der Bühne des Staatstheaters? Eine burschikose, die bereits in den ersten Szenen, als Ferdinand von einer Gewalttat gegen seinen Vater phantasierte, sagte: „Tu’s doch!“ Es ist eine andere Luise gewesen als Schiller sie geschrieben hat. Eine Luise – so hat sich der Regisseur oder die Regisseurin wohl gedacht – für die heutige Zeit. Sie äußerte sich auch im Sinne heutiger Vorstellungen über die Geschlechterdiffusion und erhielt dafür Szenenapplaus. Ich habe nicht mitgeklatscht, weil ich nicht ins Theater gekommen war, um mir anzuhören, dass es keinen ganz männlichen Mann und keine ganz weibliche Frau gäbe; dass es also – so sollte man es wohl verstehen – nur Zwischenformen der binären Geschlechter gäbe. Als ich von der Schauspielerin der Luise das „Tu’s doch!“ und den Senf über die Zwischenformen der binären Geschlechter gehört hatte, hatte ich gewusst, dass es ein Fehler gewesen war, ins Theater zu gehen und dabei die Hoffnung zu hegen, es könnte sich gegenüber der vor einigen Jahren besuchten „Hamlet“-Aufführung irgendetwas zum Besseren und Klareren verändert haben. Nein, es hatte sich nichts verändert! Damals wie gestern exaltiert auf der Bühne herumlaufende und -fallende Schauspielerinnen und Schauspieler, die abrupt wechselten zwischen leisem Gesprochenem und lauthals Geschrienem; überhaupt wurde mehr oder weniger dauernd herumgeschrien, dabei von Zeit zu Zeit eine obszöne Geste eingestreut, sei es zwischen Vater Miller und seiner Frau, der „infamen Kupplerin“, oder zwischen Lady Milford und dem Hofmarschall von Kalb. Merkwürdige Bewegungen, Erstarrungen und dann wieder Hyperaktivitäten – so wird Leben auf der Bühne des Staatstheaters gezeigt. Kann ich irgendetwas davon lernen; mir mitnehmen nach Hause? Die Kammerdienerszene wurde nicht zwischen dem Kammerdiener und Lady Milford gespielt wie bei Schiller, sondern zwischen Lady Milford und dem Hofmarschall von Kalb. Letzterer war übrigens als Trans konzipiert und zurechtgeschminkt. Ich schloss die Augen und versuchte zu dösen, aber neben mir saß ein dicker junger Mann, der den angrenzenden Teil meines Platzbereiches für sich beanspruchte und auch noch dauernd hustete, sodass ich schon dachte, dass er Corona hat und mich zu allem Übel, das von der Bühne kam, auch noch anstecken könnte. Als ich die Augen wieder öffnete, wuchteten der Präsident und Ferdinand gemeinsam einen toten Hirsch auf eine Art rollbaren OP-Tisch. Der Präsident holte ein langes Messer hervor und überreichte es bedeutungsvoll Ferdinand, dass er den Hirsch ausweide. Ferdinand konnte es aber nicht, da übernahm die Sache sein Vater und zeigte ihm, wie man’s macht. Der Regisseur oder die Regisseurin der Inszenierung am Staatstheater dachte gewiss, es bedürfe einer drastischen Bildsprache, um irgendetwas zu verdeutlichen, das bei Schiller nicht deutlich genug wird. Der Vorhang – ein Metallgeflecht – senkte sich, das Publikum klatschte und gab Töne der Begeisterung von sich, welche die Truppe jenseits des Metallgeflechts ermutigen sollte so fortzufahren wie bisher; soll heißen: mit ordentlich viel Senf der Regisseure und Regisseurinnen. Ich dagegen floh aus dem Theater der klaren Luft des Abends entgegen.