MAINZER ERZÄHLUNGEN
Thomas Berger
WECKRUF
Über die Erzählung Erinnerung an Dieter S.
von Johannes Chwalek
„Du sprichst von Zeiten, die vergangen sind“, sagt Kronprinz Don Carlos zum Malteserritter Marquis von Posa in Friedrich Schillers Drama Don Carlos (I, 2). Von vergangenen Zeiten erzählt auch Johannes Chwalek, Autor und Gymnasiallehrer aus Mainz, in seinem Buch Skizzen eines Schachspielers. (1)
Die vorletzte Geschichte des Bandes mit dem Titel Erinnerung an Dieter S. blickt auf die Bekanntschaft des Ich-Erzählers mit einem früheren Kollegen zurück. In sachlichem Ton schildert Johannes Chwalek Begebenheiten, welche die Männer, beide Lehrer an einem privaten Institut, in zehn Jahren miteinander teilten, ohne dass sie sich deshalb nähergekommen wären: das Zetern ihres Chefs, der um die wirtschaftliche Existenz des Lehrinstituts bangt, kurze Begegnungen förmlicher Art beim Wechsel der Unterrichtsstunden, das regelmäßige Unterschreiben der Geburtstagskarte für den Leiter und die Entrichtung des anteiligen Betrages für das Geschenk. Das ist eigentlich schon alles, was der Ich-Erzähler, dessen Name nicht genannt wird, von dem Mathematik- und Physiklehrer Dieter S. zu berichten weiß – dies freilich noch: „Er wohnte weit weg, besaß in M. nur ein Zimmer. Er hatte keine Frau; später erfuhr ich […] dass seine Familie nach dem Tod seiner Mutter nur noch aus zwei ‚entfernten Cousinen‘ bestand.“ (2)
Ist dies Wenige erzählenswert? Gewiss nicht – wären da nicht Textpassagen, welche die kargen Mitteilungen in ein nachgerade philosophisches Licht rücken. In dem Exkurs über den Zeitsinn, den Thomas Mann seinem Roman Der Zauberberg einfügte, lesen wir: „Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und ‚langweilig‘ machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit.“ (3) Von diesem Zeitempfinden schreibt auch Johannes Chwalek, wenn er dem Ich-Erzähler im Hinblick auf das Ritual der jährlich wiederkehrenden Aktion mit der Karte und der Gabe zum Geburtstag die Worte in den Mund legt: „Übrigens kam es mir bald vor, als verstriche die Frist […] immer schneller.“ Er sei schließlich „fast erschrocken“ darüber. (4)
Und dann gibt es neben dem Hinweis auf die rasch zusammenschrumpfende Zeit noch den bedeutsamen und bedenkenswerten letzten Satz der Rückbesinnung auf Dieter S., der, wie eingangs berichtet wird, bei einem Unfall „auf abschüssiger, eisglatter Straße“ (5) starb: Erst jetzt, erst seit dem Tod des Kollegen, „(geht) der mir nun merkwürdig durch den Sinn, da er für immer verschwunden ist“. (6) Die Erzählung erhält durch diese Bemerkung auch eine melancholische Note. Die verwehende Zeit, die irritierende Macht des Todes – die nur drei Buchseiten umfassende Erinnerung an Dieter S. ist ein treffendes Beispiel für die Wahrheit der berühmten Sentenz: „Alles ändert sich, und wir ändern uns mit.“
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(1) Johannes Chwalek, Skizzen eines Schachspielers. Erzählungen,
Scholastika Verlag, Stuttgart 2021
(2) a.a.O., S. 175/176
(3) Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, S. Fischer Sonderausgabe,
Frankfurt am Main 1991, S. 144
(4) a.a.O., S. 175
(5) a.a.O., S. 174
(6) a.a.O., S. 176