SPÄTE RACHE


MAINZER ERZÄHLUNGEN

Thomas Berger

SPÄTE RACHE
Über die Erzählung Der Händedruck des Kaisers
von Johannes Chwalek

Der Titel, den der Autor Johannes Chwalek, Jahrgang 1959, der vierten Erzählung seines BuchesSkizzen eines Schachspielers (1) gab, lässt einen harmlosen Inhalt erwarten. Wer interessiert sich schon dafür, von welcher Art ein kaiserlicher Händedruck ist? Doch diese Vermutung hat die Rechnung ohne den versierten Erzähler gemacht – und ohne den deutschen Kaiser und König von Preußen Wilhelm II.

Zum historischen Hintergrund: Am 9. November 1918 verkündete Reichskanzler Max Prinz von Baden in eigener Verantwortung den Rücktritt des letzten deutschen Kaisers. Zwei Tage später wurde das Waffenstillstandsabkommen der Alliierten mit Deutschland geschlossen. Am 28. November desselben Jahres verzichtete Wilhelm II. auf den Thron. Als Exilant lebte er in den Niederlanden.

Dort, im Exil, spielt die Erzählung Der Händedruck des Kaisers. Johannes Chwalek, der am Gymnasium Mainz-Oberstadt neben Deutsch und Philosophie das Fach Geschichte unterrichtet, führt die Leser in das Arbeitszimmer und einen Nebenraum des Protagonisten. Die ehemalige Majestät kann sich mit dem Verlust der Macht nicht abfinden. Er sinnt auf Rache. Wen macht er für seine persönliche Lage und für die Umwandlung Deutschlands in eine Republik verantwortlich? Es ist in seinen Augen das Werk „einer Verschwörung aus Juden und verräterischen Militärs“ (2). Und deshalb schreibt er wutschnaubend an einer „Revolutionsschrift“, betitelt: Der Jude heute. (3) Doch Wilhelm II. ist dermaßen aufgebracht, dass er sich nicht recht zu konzentrieren vermag. Der den Waffenglanz Liebende geht zu dem Schrank, in welchem drei Uniformen hängen: eine Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfürsten, eine von Friedrich dem Großen, genannt der Alte Fritz, beide Uniformen Imitate, sowie seine eigene.

Es ist historisch verbürgt, dass Wilhelm II. eine körperliche Behinderung hatte. Johannes Chwalek beschreibt sie so: „Der linke Arm war mitsamt der Hand verkrüppelt.“ (4) Das bringt es mit sich, dass das Anziehen der gewählten Uniform Friedrichs des Großen beschwerlich ist. Kaum hat sich der Rachedurstige wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, um an seiner Schrift gegen die Juden und für „die Wiedergeburt eines germanischen Nationalismus“ (5) und weiterzuarbeiten, löst sich ein Knopf von der Uniform. Wütend ruft er die Köchin herbei, den Schaden zu beheben. Unter dem Vorwand, ihr „einmal herzlich Dankeschön [zu] sagen für all die Disziplin“ ihres Dienstes, ergreift sie „voller Verzweiflung“ die ihr entgegengestreckte Hand. (6)

Nein, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten – nur dies: der Schluss der Erzählung erweist diese als kleines Kabinettstück.

 

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(1)  Johannes Chwalek, Skizzen eines Schachspielers. Erzählungen,
      Scholastika Verlag, Stuttgart 2021
(2)  a.a.O., S. 167
(3)  a.a.O., S. 171
(4)  a.a.O., S. 167
(5)  a.a.O., S. 171
(6)  a.a.O., S. 172