Leben ohne Tagebuch
Möchte ich ohne mein Tagebuch leben? Es ist ein treuer Begleiter. Es ist für mich da, wenn Gedanken aus meinem Innern hervorbrechen wollen. Diffus Empfundenes wird zu Schrift und klärt sich auf diesem Wege. Es strukturiert sich zu Sätzen, zu Teilsätzen jedenfalls. Im Vergleich zu anderem Geschriebenem bleiben die Ergüsse aber strukturlos, sie haben keine ausgefeilte Gestalt wie Gedichte oder Kurzprosastücke. Deshalb sind sie für ein nachträgliches Durchlesen nur bedingt geeignet.
Kann ich daher doch darauf verzichten, auf das Tagebuch?
Als Jugendliche habe ich geglaubt, dass das, was mich beschäftigt, auch für andere interessant ist. Also wollte ich meiner besten Freundin immer wieder aus meinem Tagebuch vorlesen. Sie langweilte sich schrecklich und schlief darüber ein. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte ihr einfach so etwas von mir erzählt, aber ganz sicher ist es auch da nicht, dass sie mir zugehört hätte.
Ohne mein Tagebuch hätte ich mich vielleicht nicht so sehr in mich selbst versenkt. Wenn ich als Sechzehnjährige Tagebuch schrieb und meine Mutter mich davon wegriss, weil sie irgendeine Hilfe im Haushalt von mir wollte, war ich verstört. Wäre ich ohne Tagebuch klarer gewesen, hätte meiner Mutter zuerst geholfen, um dann wieder anderen Interessen nachzugehen?
Auch in späteren Lebensjahrzehnten habe ich immer wieder zum Tagebuch gegriffen, habe darin meine Liebesbeziehungen und meine Freundschaften analysiert. Meine Gedanken formte ich immer in der Absicht, einmal Schriftstellerin zu werden. Dann würden meine Tagebücher aufbewahrt und von anderen gelesen werden.
Immer habe ich mich bemüht, gestaltete und gut organisierte Texte zu verfassen, wie Erzählungen und einmal eine Novelle. Form und Schliff standen an oberster Stelle, die gesamte Textgestalt. Doch zwischendurch suchte ich immer wieder nach dem Tagebuch, um etwas Formloses auszudrücken, das mich gerade bedrängte. Ohne mein Tagebuch hätte ich dieses Ventil nicht gehabt. Ich hätte entweder streng oder ich hätte gar nicht geschrieben. Weil ich mich immer um literarische Produktivität bemühte, ist das Tagebuch für lange Jahre hinten herunter gefallen. Als ich aber ausgebrannt war und eine ernste Schreibblockade hatte, holte ich es wieder hervor. Heute weiß ich, dass es mich nicht zur Schriftstellerin macht. Aber es kann mich bei privaten Sorgen trösten, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das Notierte noch einmal nachlesen werde.