Brief vom Polizeipräsidium
Zweimal habe ich mich wegen einer mir schriftlich zugesandten Beschuldigung, das Handy meiner Frau ausgespäht und unter Missbrauch ihres Online-Kontos drei Bestellungen getätigt zu haben, nicht in der Weise geäußert, wie ich das von mir selbst erwarten würde; vielleicht gelingt es mir hier in schriftlicher Form besser. Das Beschuldigungsschreiben, in dem neben dem Ausspähen von Daten und Betrug noch zwei weitere Straftaten genannt waren, an die ich mich nicht mehr erinnere, weil ich das Schreiben im Büro der vernehmenden Beamtin des Polizeipräsidiums W. liegengelassen habe, brachte mich aus der Fassung. Ich nahm den Umschlag aus dem Briefkasten, las den Absender, öffnete ihn und traute meinen Augen nicht. Schlagartig fühlte ich mich in eine Welt versetzt, in der ich nicht sein wollte: als Krimineller verdächtigt zu werden. Die Formulierung „verdächtigt zu werden“ trifft es im Grunde nicht ganz; ich fühlte nur die Last der Beschuldigung. Diese war zwar falsch, aber sie stand in einem offiziellen Schreiben der Staatsmacht schwarz auf weiß vor meinen aufgerissenen Augen. Meine Frau hatte mir zwei, drei Tage vorher noch von einem Telefongespräch mit einer Polizistin berichtet, die sich auf ihre vor bald drei Jahren erstattete Anzeige bezüglich ihres gehackten Online-Kontos dahingehend äußerte, dass ich als ihr Ehemann der Tat bezichtigt werde. Meine Frau meinte, sie habe gelacht und der Polizistin mitgeteilt, dass ich nicht einmal ein Update allein durchführen könne. Zwar fragte ich noch, wie die Polizistin auf diese Information reagiert habe, meine Frau sagte jedoch nichts dazu oder vielleicht nur, dass die Polizistin die Information zur Kenntnis genommen habe. Trotzdem ging ich davon aus, dass es damit sein Bewenden habe; die Polizistin müsste einsehen, dass jemand, der nicht einmal ein Update allein durchführen könne, zum Ausspähen fremder Daten nicht in der Lage sei. Dies war weit gefehlt; der Beschuldigungsbrief enthielt neben den vier strafrechtswürdigen Vergehen eine Vorladung zum Polizeipräsidium W. zur „Einvernahme“. Ich konnte es nicht fassen. Meine Frau wählte die angegebene Telefonnummer. Eine Beamtin meldete sich und sprach mit ruhiger Stimme. Ich verlangte das Handy meiner Frau, rief zur Begrüßung ein unhöfliches „Hören Sie mal!“, dann sagte ich atemlos, dass ich seinerzeit selbst meine Frau dazu gedrängt habe, wegen der Bestellungen, die sie nicht aufgegeben hatte, und der Belastungen ihres Online-Kontos Anzeige zu erstatten; dass ich sogar mitgegangen sei auf die Polizeidienststelle. Und dann sollte ich selbst der Täter sein? Die Beamtin blieb trotz meines unhöflich-aufgeregten Tonfalls weiterhin ruhig und sachlich und meinte, dass eine Einvernahme auch zur Entlastung stattfinde, nicht nur zur Belastung. Meine Frau, die meinen heillosen Zustand wahrnahm, sagte der Beamtin, dass sie die Anzeige zurückziehen wolle, erhielt aber die Auskunft, dass dies nicht möglich sei. Es blieb nichts übrig, als die Frist bis zum Anhörungstermin abzuwarten. In dieser Zeit durchlebte ich verschiedene Zustände, sah mich trotz meiner Unschuld weiterhin verfolgt und im Gefängnis sitzen, aller bürgerlichen Ehre beraubt; sah mich aber auch als das, was ich war: unschuldig. Sollte es nicht möglich sein, dies einwandfrei darzulegen? Wenn mich die Sorge wieder überkam, lachte meine Frau und winkte ab. Sie mache sich keine Gedanken, sie sei auch einmal vor Jahren beschuldigt worden, einen Arbeitskollegen bestohlen zu haben. Auf der Polizeidienststelle habe sie angegeben, dass sie gar nicht gewusst habe, dass der Kollege den fraglichen Wertgegenstand im Büro verwahrt habe, also nichts mit der Sache zu tun habe. Ihre Aussage sei zu Protokoll genommen worden und habe zu ihrer baldigen Entlastung vom Schuldvorwurf geführt. So werde es auch in meinem Fall geschehen. Ich versuchte mich zu beruhigen, sagte mir, dass ich es nicht war und die Beschuldigung gar nicht hätte „leisten“ können, aber die Tage bis zum Anhörungstermin verbrachte ich dennoch mit ungutem Gefühl.
Zum Polizeipräsidium W. fuhr ich mit meiner Frau. Wir kamen zu früh an, stiegen mit dem Aufzug in den vierten Stock, wo ich von einer Beamtin abgeholt wurde. Ich fragte, ob meine Frau mitgehen könne zur Anhörung, weil sie sich auskenne mit den technischen Angelegenheiten, dies erlaubte die Beamtin aber nicht. Auf dem Weg über den Gang zum Anhörungszimmer fragte mich die Beamtin, ob ich es habe einrichten können, heute zu erscheinen, was freundlich gemeint war, mir aber gleichwohl seltsam vorkam. Denn was blieb mir anderes übrig, als zu erscheinen zum Anhörungstermin? Wegen der Hoffnung, die Beschuldigung(en) heute endlich ausräumen zu können, wollte ich den Termin auch unbedingt wahrnehmen. Die Gelegenheit zu sprechen, schon auf dem Gang, tat mir dennoch wohl. Ich erklärte, wie ich es unter den Bedingungen des Fernunterrichts arrangiert habe, zu erscheinen. Für mein Empfinden musste der Beamtin einleuchten, dass meine berufliche Tätigkeit als Lehrer nicht zusammenpasste mit den Anschuldigungen, wegen der sie mich befragen sollte. Im Anhörungszimmer fragte ich die Beamtin, ob sie es gewesen sei, mit der ich vor zwei Wochen am Telefon gesprochen habe. Die Beamtin bejahte. Ich entschuldigte mich für meinen Tonfall damals, ich sei aufgeregt gewesen und komme mir immer noch vor wie bei Kafka. Die Beamtin lächelte schwach, hieß mich Platz nehmen an einem Tisch, sie selbst setzte sich vor den Computer, fragte mich nach meinen Personalien, ließ sich meinen Personalausweis zeigen (wofür sie wieder aufstand) und erklärte mir, dass ich als Beschuldigter nichts sagen müsse, ich könne von meinem Recht zu schweigen Gebrauch machen. Auch habe ich das Recht, einen Anwalt zur Anhörung hinzuziehen. Ich schüttelte verneinend den Kopf, dachte an Krimis, die ich gesehen hatte, wo das soeben erlebte Szenario oft gezeigt wurde, und antwortete, dass ich unbedingt aussagen wolle. „Sie bestreiten die Tat?“, fragte die Beamtin. „Ja“, antwortete ich, aus moralischen und sachlichen Gründen sei es unmöglich, dass ich die Tat begangen habe. Ich bildete mit meiner Frau ein Team und würde sie niemals auf diese schäbige Art hintergehen. Die Tat – sollte ich sie wirklich begangen haben – würde mich privat und beruflich ruinieren; warum sollte ich so etwas tun? Ich sei – nebenbei gesagt – Familienvater und Ethiklehrer. Wie könnte ich mich mit solch einer Tat vor meinen Kindern und den Schülerinnen und Schülern verantworten? Die Beamtin tippte meine Aussagen in den Computer. Mir war klar, dass meine bisherigen Auslassungen zwar ein gewisses Maß an Überzeugungskraft besaßen, aber noch nicht in zwingender, logisch-unwiderlegbarer Weise. Deswegen brachte ich nun den Sachgrund vor, der nach meiner Auffassung die Absurdität der Beschuldigung erhellen musste. Ich erklärte, von meinen Kenntnissen her nicht in der Lage zu sein, Daten auszuspähen, dies könnten meine Frau und mein Sohn bezeugen. Der Computer sei für mich ein Gebrauchsgegenstand zum Schreiben, YouTube-Sehen und -Hören und zum Recherchieren (hier stutzte die Beamtin; dachte sie daran, dass das Recherchieren sich auf das Ausspähen fremder Daten beziehen könnte?). Die Informatik-Ebene des Gerätes, fuhr ich fort, interessiere mich nicht. Die Beamtin schaute mich mit einer Miene an, die mir signalisierte, dass meine Aussage auch als Schutzbehauptung gesehen werden könnte. Meine Ergänzung, dass ich bei der halbjährlichen Eingabe der Zensuren für die Oberstufenschüler immer die Hilfe der Oberstufenleiterin meiner Schule brauche, um überhaupt ins Programm zu finden und dann mit dem Programm zurechtzukommen, das immer wieder wechsle oder durch Updates anders zu bedienen sei, tippte die Beamtin dagegen mit einer Gestik und Lautäußerung in den Computer, die mir zu verstehen gab, dass diese Aussage zu meiner Verteidigung und Unschuldsbekundung besser zu gebrauchen sei. Die Oberstufenleiterin ist eine „neutrale Person“, die befragt werden könnte und deren Aussage für die Staatsanwaltschaft ein ganz anderes Gewicht besäße als die Aussagen meiner Frau oder meines Sohnes, die unter dem Verdacht der Gefälligkeit stünden. Eine Info meiner Frau fiel mir noch ein, die ich anbringen konnte: dass ich damals Alleinverdiener war und die Rechnung für die Bestellungen selbst hätte bezahlen müssen. Wozu hätte ich den Umweg gehen sollen, da ich ganz einfach meiner Frau hätte sagen können, dass sie mir dies oder das bestellen solle? Die Beamtin sah mich an. Ich erklärte, dass ich noch nie etwas über den in Rede stehenden Online-Dienst bestellt habe, das mache alles meine Frau. Ein paar Sätze später erwähnte ich Bücher, die ich für mein Lesegerät heruntergeladen habe. Die Beamtin schaute – so kam es mir vor – irritiert und tippte in den Computer. Hatte ich mir nach ihrem Eindruck widersprochen, weil ich kurz zuvor noch behauptet hatte, noch nie etwas bei dem in Rede stehenden Online-Dienst bestellt zu haben? Rückte ich für sie nun doch wieder in die Sphäre des Verdächtigen? Ich bemerkte ihre Irritation – die ich mir vielleicht nur einbildete – kam aber nicht auf die Idee zu sagen, dass mein Lesegerät mit dem Online-Konto meiner Frau verbunden ist. Die Beamtin fragte mich nach den Titeln der Bücher, die ich heruntergeladen habe, ich nannte ihr einige Autoren, die mir einfielen, Stifter, Schiller usw., außerdem nannte ich ihr eine Bücher-Bestellung über die Homepage der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung. Die Beamtin fragte mich nach dem Datum dieser Bestellung, das ich nur noch ungefähr angeben konnte. Die Bücher waren aber noch immer nicht angekommen; vielleicht hatte ich etwas falsch gemacht beim Ausfüllen und Abschicken des Formulars. Schließlich fragte ich die Beamtin, wie die Ermittlungsbehörden überhaupt auf mich kämen. Die Beamtin erklärte mir, dass die Bestellungen auf meinen Namen aufgegeben worden seien, was ich schon wusste; meine Frau hatte meinen Namen und die Namen ihrer Eltern auf ihrem Handy hinterlegt gehabt, damit während der Zeit ihres Auslandsaufenthaltes Bestellungen zu Hause entgegengenommen werden konnten. Mir schoss es durch den Kopf, dass ich – falls ich die Tat begangen hätte – doch nicht so dumm gewesen wäre, auf meinen Namen zurückzugreifen, aber ich sagte nichts. Die Beamtin meinte noch, dass die Polizistin, die vor fast drei Jahren die Anzeige meiner Frau aufgenommen hätte, meine Anwesenheit in der Dienststelle nicht notiert habe. Ich konnte mir den Grund dafür erklären und äußerte ihn auch: Meine Frau sei zuerst allein zur Polizeidienststelle gegangen, aber regelrecht verstört und weinend zurückgekehrt, weil sie sich von einer Polizistin nicht ernst genommen und sogar abgewimmelt und rausgeekelt gefühlt habe. Sie wollte keine Anzeige mehr machen, ich habe aber darauf bestanden und sei mitgegangen; wir wollten mal sehen, ob sie – meine Frau – die Anzeige aufgeben könne oder nicht. Die Polizistin sei noch dieselbe gewesen wie beim ersten Auftauchen meiner Frau und habe nun den Sachverhalt erfragt und in den Computer eingetippt. Ich konnte Einzelheiten benennen, dass ich erst mit im Dienstzimmer gesessen habe, dann aber mit unserer quengelnden kleinen Tochter rausgegangen sei auf den Gang. Die Polizistin habe mir noch anbefohlen, mich nur unmittelbar vor dem Dienstzimmer aufzuhalten oder mit dem Kind rauszugehen, aber nicht den Gang entlang an den anderen Dienstzimmern vorbeizugehen. Hatte die Polizistin mich nicht im Protokoll namentlich erwähnt, weil es ihr unangenehm war, dass ich als „Verstärkung“ mitkommen musste, damit meine Frau zu ihrem Recht kam? Wie auch immer, durch diesen Umstand war es der Staatsanwaltschaft nicht klar, dass ich der Ehemann der Geschädigten war, wie mir die Beamtin erklärte. Sie schien nun eher davon überzeugt zu sein, dass die Anhörung meiner Entlastung diene, anstatt meiner Belastung. Trotzdem kam es noch zu dem Moment, wo ich ihr dezidiert kundgab, es nicht gewesen zu sein und wir uns dabei in die Augen schauten. Dann fragte mich die Beamtin, ob ich einen Verdacht habe für die Täterschaft, ich äußerte aber, dass ich keinen Namen nennen wolle, weil ich nun selbst erfahren habe, was es bedeute, unschuldig ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft zu geraten. Was folgte, war meine Unterschrift unter das ausgedruckte Protokoll; bei der Lektüre schämte ich mich im Stillen meiner zuweilen emotionalen und nicht immer stringenten Redeweise. Auf dem Treppenhausabsatz wartete meine Frau. Die Beamtin hatte mich aus ihrem Dienstzimmer über den Gang dorthin begleitet. Meine Frau fragte, ob die Angelegenheit nun erledigt sei. Die Beamtin antworte, dass dies die Staatsanwaltschaft entscheiden müsse aufgrund des Protokolls. Wie werde es weitergehen? fragte meine Frau noch einmal. „Wahrscheinlich werde das Verfahren eingestellt“, meinte die Beamtin. Meine Frau stellte noch eine Frage hinsichtlich der IP-Adresse, mit welcher der Täter (die Täterin?) hätte überführt werden können, aber die Beamtin erklärte dies als nicht mehr möglich, die Adresse werde nur sechs Wochen lang gespeichert. (In diesem Zeitraum hatten anscheinend keine Ermittlungen stattgefunden.) Im weiteren Gespräch zwischen meiner Frau und der Beamtin stellte ich eine Zwischenfrage, die zur Belustigung der beiden Frauen meine Unwissenheit im technischen Vorgang des Erspähens digitaler Daten offenbarte.
Zwei Wochen später erhielt meine Frau ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft W., dass das Verfahren gegen mich „wegen des Verdachtes des Betruges und Ausspähens von Daten“ eingestellt werde und „kein begründeter Tatverdacht“ mehr bestehe. „Wer der unbekannte Täter war, konnte nicht ermittelt werden.“