Toxische Narrative und ihre möglichen Folgen für Deutschland


Toxische Narrative und ihre möglichen Folgen für Deutschland

Das Spektrum politischer Narrative — ein exemplarischer Einblick, Teil I

16.02.2021 bis 19.03.2021

 

Rückblick

In den letzten Blogbeiträgen schlugen wir den historischen Bogen politischer Narrative von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart. Ihr Wandel hinsichtlich ihres Sinnes, Zweckes sowie ihrer jeweiligen Zielsetzungen in-der-Zeit wurden skizzenhaft dargestellt. Definitionen wurden scherenschnittartig gegeben. Im letzten Beitrag wurden politische Narrative etwa im Bereich der asozialen Medien von Informationen, Nachrichten und Kommentaren im Bereich des Qualitätsjournalismus unterschieden. Jene gründen in rein persönlichen Gefühlen, Neigungen (vgl. Wutbürger-Szene), weltanschaulichen, teils ideologischen Ansichten, verbrämten Meinungen (vgl. Identitäre, Neonazi-Szene) und werden durch die staatlich verbriefte Meinungsfreiheit geschützt, während Nachrichten im Qualitätsjournalismus den Gesetzen des Rundfunk- und Presserechts unterliegen. Werden weltanschaulich-ideologische Narrative ins Extreme vorangetrieben, so dienen sie meist der Zersetzung der freiheitlich-rechtlichen Ordnung, da Extremisten, von „links“ wie von „rechts“, den demokratischen Staat durch Staatsformen der Diktatur ersetzen wollen (vgl. „Diktatur des Proletariats“, historische Diktaturen des Faschismus und Nationalsozialismus). Nachrichten des Qualitätsjournalismus dienen den Bürger*innen zwar zur Information über das „Weltgeschehen“, das außerhalb ihres Erfahrungshorizontes geschieht. Jedoch liefern auch Qualitäts-Nachrichten lediglich ein mehr oder minder „objektives“ (Qualitätsjourmalismus) bzw. „tendentiöses“ (Boulevardjournalismus, Regenbogenpresse) Bild einer „Medienrealität“. Entgegen dem Slogan liefert kein Nachrichten-Medium „das ganze Bild“ an unseren Frühstückstisch bzw. in unsere Wohnzimmer, da die „fertige Nachricht“ das Endergebnis eines mehrstufigen, kaskadierenden Selektions-Prozesses (Terminus: Gatekkeeper-Prozesse) ist. Anders als die „Neuen Rechten“ skandieren, ist der heutige Qualitätsjournalismus keinesfalls eine „Lügenpresse“ — da unterstellt man das Eigene im Feindbild dem Anderen — gleichwohl leidet seine Qualität erheblich darunter, dass die „Rohinformationen“ bzw. vorgefertigten Artikel von AP, reuters, AFP, dpa und anderen Pressediensten und Nachrichtenagenturen als Waren auf einem globalisierten, hartumkämpften Nachrichten-Markt verkauft werden. Die Ware „Nachricht“ ist folglich lediglich in-der-Sache mehr oder minder richtig, hinsichtlich der äußerst komplexen Realität jedoch niemals wahr.

 

Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, wenigstens schlaglichtartig das Phänomen politischer, toxischer Narrative zu beleuchten. Nach welchen „Bausteinen“, Komponenten und Mustern funktionieren diese tradierten Erzählungen bzw. politischen Reden? Was sind die faktischen Folgen einer vergiftenden Hetzpropaganda von Populisten à la Donald Trump und Boris Johnson, von Rechtspopulisten à la Orbán, Le Pen, Wilders, Salvini, den AfD-Granden um Gauland, Seidel, Chrupalla, Curio sowie von Rechtsextremisten à la Höcke, Kalbitz, et al.? Erläuternde Vorbemerkungen.

 

Die geistige Situation der Zeit, heute — das Dilemma

In Anlehnung an den berühmten Titel des tausendsten Göschenbändchens „Die geistige Situation der Zeit“, in dem der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers 1931 die condition humaine des „modernen Menschen“ scharfsichtig analysiert, soll anhand der politisch transportierten Welt-Bilder unsere heutige geistige Situation andeutungsweise nachgezeichnet werden. Ein Jaspers-Text, so zeitlos präzise gefasst, als ob es sich hierbei um eine Beschreibung unserer eigenen, existentiellen Ist-Situation handeln würde. Es steht die Frage im Raum, ob sich unser Menschsein im Kontext des Politischen in den letzten 80 Jahren wesentlich verändert hat — oder ob über unser existentielles Dasein als „Mensch-Sein“ lediglich Zeit hinweggegangen und verstrichen ist. Wurde dem „alten Adam“ im Laufe der Zeit lediglich ein jeweils anderes, wissenschaftliches „Etikett“ aufgeklebt, das ihn, je nach paläontologischem Fund sowie soziopsychologischer Betrachtung, zunächst als „homo erectus“ sodann als „modernen Menschen“, hierauf folgend als einen „postmodernen“ und zur Zeit als den heutigen „postpostmodernen Menschen“, den „homo digitalis“, deklarierte? Hat sich der Mensch selbst in seinem Sein  in den letzten 80 Jahren weiterentwickelt — oder ist anstelle des „Massendaseins“ von 1931 (Jaspers, a.a.O., S. 30ff.) lediglich die heutige Nivellierung aller Lebens-Bereiche wie auch die Uniformität des Geistes, unseres Denkens, unserer Weltanschauungen, getreten? Ist damals (1931) wie heute — wenn auch aus verschiedenen Ursachen — nicht im Grunde unserer Existenz: die bodenlose Lebens-Angst? Noch immer, immer noch, schon wieder? Vollzieht sich unser heutiges Leben gleichsam über einem alles verschlingenden, leviathanischen Abgrund, dessen eine Seite der existentielle Zweifel und dessen andere Seite der nivellierende Nihilismus begrenzt? Ein Leben in-der-Schwebe, das Halt sucht und deshalb Gewissheit(en) fordert. Eine Gewissheit, die im persönlichen Innen nicht gefunden und deshalb im populistischen Außen, in Extrem-Positionen von Weltanschauungen, gesucht wird? Ist anstelle des konfessionellen Glaubens heute erneut ein „politischer Glaube“, eine ideologische Konfession, getreten? Wie spiegelt sich dieses Daseinsverständnis in den heutigen politischen Narrativen wider? Eine kurze historische Auswahl.

 

Klärung verschiedener Grundkomponenten toxischer Narrative: Stereotypen

Ein „Narrativ“, gleichviel, ob nun politischer Provenienz oder anderer Qualität, ist kein monolithischer Block, sondern setzt sich aus vielen Komponenten und Erzählsträngen zusammen. Wie gelingt es Demagogen per Agitation aus Worten Taten, aus Zuhörer*innen Sympathisanten*innen, aus diesen Straftäter*innen zu machen?

Zunächst: Die Basis aller  Erzählungen ist einer-seits unsere Sprache („Narrative“, von lat. narro, kundtun, schildern, Nachricht geben) und anderer-seits unser Sehvermögen (vgl. „bildhafte Erzählungen“ von den Hyieroglyphen, über die mittelalterliche Kirchenkunst, bis zu den filmischen Erzählformen unserer Tage). Mit den Tieren gemeinsam hat der Mensch fünf Primärsinne, die sich in drei Fernsinne und zwei Nahsinne unterscheiden: Sehsinn, Hörsinn, Geruchssinn; Geschmackssinn, Tastsinn. Als einen weiteren Sinn könnten wir das Anthropologikon der komplexen Sprache einfügen, da das menschliche Sprach-Vermögen unserem Dasein wie unserer Existenz „Sinn“ verleiht.

Was  also transportieren wir Menschen mittels Sprache wohin, dass aus einem geschriebenen Wort im Lesenden und aus einem gesprochenen Wort im Zuhörenden, im Dialog-Partner, nicht bloß distanziertes Denken, sondern lebendiges Erleben wird? Welches Vermögen, das einzig dem Menschen zu eigen ist, wird von der Sprache an-gesprochen, lässt sich durch ein Wort so sehr berühren und aktivieren, dass es den Lesenden bzw. Hörenden selbst bewegt, mitreißt, begeistert? Welches menschliche Vermögen entspricht so sehr der Sprache, dass es Gesprochenes bzw. Gelesenes in uns lebendig werden lässt? Es ist die Grundfrage aller Kommunikation (vgl. lat. communicatio und communio, Gemeinschaft). Ist es unsere Phantasie, unsere Empathie, unsere Intuition, die das „Band“ vom Anderen zum Eigenen knüpft? Ist diese Transformation nicht äußerst erstaunlich und deshalb eines Gedanken wert? Und wie wird in der Umkehrbewegung aus der Erlebnis-Welt in unserem Inneren, eine Motivation zum Handeln im Äußeren? Wie werden aus Worten ent-sprechende Taten?

 

Unabhängig sowohl von der Text-Gattung — Drama, Tragödie, Dichtkunst, platonische Dialoge, u.v.a.m. — als auch vom Genre (z.B. Belletristik in Form von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten, Comic, etc.pp. als Schrift-Text) als auch in der Variante des gesprochenen Wortes, der (freien) Rede, scheint der erzählenden Sprache eine Wirkmächtigkeit innezuwohnen, die das Wort zu innerer, lebendiger Wirklichkeit werden lässt. Dann werden Raum und Zeit gleichsam getilgt und eingeschmolzen im „Nu“. Wir werden sozusagen „gleichzeitig“ (vgl. u.a. Kierkegaard’s theologisch-philosophischen Terminus der „Gleichzeitigkeit“, in: Philosophische Brocken; Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift). Völlig unabhängig vom gewählten „Protagonisten“ — heiße er nun Iphigenie oder Sokrates, heiße er Dmitri Karamasow oder Juri Schiwago, Robin Hood oder Old Shatterhand, Peter Pan oder Harry Potter — können sie alle während unseres Lese-Vergnügens bzw. Hörgenusses in unserer Erlebnis-Welt lebendig und gleichsam zu unseren Zeit-Genossen, „Nachbarn“ und „Freunden“ werden, scheinen bei uns am Tisch oder auf der Couch zu sitzen. Wie ist es nur möglich, dass nicht nur antike Dramen, Tragödien, philosophische Dialoge, theologische Traktate, ja selbst „Heilige Schriften“, etc.pp., sondern auch moderne Sci-Fi-Romane und Märchen u.ä.m. uns Heutige noch immer so stark zu berühren vermögen, als ob sie den Abendnachrichten oder eben „politischen Narrativen“ entnommen seien? Was ist das An-Sprechende der Sprache, das uns in Texte aller Art eintauchen, das uns in romanhafte Erzählungen abtauchen, das uns in märchenhafte Fiktiv-Welten untertauchen lässt, und uns gleichsam zu Augen- und Ohrenzeugen des Gelesenen bzw. des Gehörten werden lässt? Was ist bei allen trennenden Unterschieden — Gattungen, Genre, freie Rede; den mitgteilten Inhalten, den Protagonisten, den Akteuren, etc.pp. — das Gemeinsame der Sprache, das lebendig uns Verbindende?

Retour zu den politischen  Narrativen. Das Tückische an politischen, toxischen Narrativen: Diese Erzählungen konstruieren eine spiegelverkehrte, destruktive Welt — sowohl in unserem Denken als auch in unserem Erleben. Was in der realen Welt links ist, das wird im toxischen Narrativ „rechts“. Was im wissenschaftlichen Forschen richtig ist (weil beweisbar), das wird in toxischen Narrativen kraft Behauptung „Lüge“ / Fake. Und umgekehrt: was in toxischen Narrativen unsachliche, da nicht beweisbare Unwahrheit und tendenziöse Lüge ist, das wird dort als allgemein-gültige Wahrheit behauptet und als solche auch von manchen Zeitgenossen*innen erlebt, weil unkritisch geglaubt. Die Konsequenz: In toxischen Narrativen dient Sprache folglich zur inneren, spiegelverkehrten Umgestaltung der Realität. Aus kolportierten Fake-News werden auf diese Weise „persönlich erlebte Fakten“ gemacht. Sprache dient Demagogen im Zuge ihrer Indoktrination nicht nur zur vorübergehenden Meinungs-Änderung, sondern zur aktiven, dauerhaften Umgestaltung von Erlebnis-Welten als „Neue Realität“. Diese rein persönlichen Erlebnis-Welten werden kraft des kolpotierten Wortes, Amerika unter Trump zeigte dies ja überdeutlich, zur „Neuen Realität“ erhoben. Diese „Neue Realität“, basiert auf reinen Behauptungen, kommt ohne irgendeinen Beweis aus, kehrt das Unterste zu Oberst, und verkauft die emotionalen Abgründe des Menschen als neue Leitwerte einer „Neuen Kultur“. Die demagogisch durchgestaltete „Neue Realität“ ist i.d.R. von der allgemeinen Realität komplett entkoppelt. Sie existiert als Pseudo-Welt in-sich. Ein Hörigkeits-Wahn als Mainstream-Kult, der innerhalb eines paranoiden Systems einen fanatisierenden Sinn ergibt.

Werfen wir deshalb vorab einen kurzen Blick auf einige der gängig verwendeten Komponenten politischer toxischer Narrative. Welche Sprach-„Zutaten“ werden in toxischen Narrativen standardmäßig verwendet und strategisch eingesetzt?

— Fortsetzung folgt, Teil II —

 

Quellen und Verweise in der Reihenfolge ihrer Nennung:

 

Die „klassischen“ fünf Sinne des Menschen

https://de.wikipedia.org/wiki/Sinn_%28Wahrnehmung%29

 

Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, 1931

https://jaspers-stiftung.ch/de/karl-jaspers/die-geistige-situation-der-zeit

 

Søren Kierkegaard

https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%B8ren_Kierkegaard