Die Stiftskirche
Das Buch des Papstes, das im Schaufenster einer Buchhandlung in der Nähe der Stiftskirche auslag, zeugt von der wissenschaftlichen Bildung seines Autors, sagte ich zu Juana. Erst skizziere der Papst den Forschungsstand über Jesus von Nazareth, gehe dann auf eine bestimmte Forschungsmeinung näher ein, kritisiere sie und stelle eine eigene These dagegen, die er im Laufe des Buches exemplifiziere. Juana nickte auf eine Art, als ob sie eine vertraute Tatsache bestätigt bekommen habe und sie die Angelegenheit nicht weiter interessiere. Ich stutzte innerlich. Was hatte ich zu Juana gesagt? Dass ich das Buch des Papstes gerade lese, hatte ich gesagt, nicht dass ich erst am Anfang des Buches sei, nur das Vorwort und das erste kurze Kapitel gelesen hätte. Eine Aussage über das Buch verbat sich deshalb schon. Was ich gesagt hatte, betraf einen formalen Aspekt wissenschaftlicher Vorgehensweise und hatte noch nichts mit dem eigentlichen Anliegen des Papstes zu tun. Ich hatte mit meiner Bemerkung über das Papst-Buch nicht Juanas Interesse geweckt, ging schweigend neben ihr und dachte, halb unbewusst, was ich ihr vielleicht noch gerne gesagt hätte: Dass ich mich vom Buch des Papstes überraschen lassen wolle, wenngleich ich natürlich eine Vermutung habe, was ich erwarten könne: eine gelehrte Abhandlung, die Jesus´ Gottessohnschaft zu erweisen bestrebt sei. Trotzdem würde ich mir originelle Gedanken erhoffen, die vielleicht nebenbei abfielen, für mich aber fast die Hauptsache darstellten … – Nein, das hätte ich damals noch nicht zu Juana gesagt, oder vielleicht erst dann, wenn sie bereit gewesen wäre, sich noch ein klein wenig länger mit mir über das Papst-Buch zu unterhalten. Vielleicht wäre mir dann eingefallen, dass ich in einem Interview-Band mit dem damaligen Kardinal Ratzinger neben den Hauptthesen schon ein Gefallen an eingeflochtenen Bemerkungen entwickelt hätte; Gedanken, die mir Freude machten, weil ich selbst nicht darauf gekommen wäre, zum Beispiel dass Moses mit Gott auf dem Berg Sinai wie mit einem Freund gesprochen habe. (Nicht schlecht, hätte ich vielleicht zu Juana gesagt, mit Gott zu sprechen wie mit einem Freund! ) Bei einem wichtigen Gedanken hätte mir Juana vielleicht helfen können: Dass das, was der Papst über Jesus schreibe, in sich logisch klinge und einen Raum markiere, der so groß sei, dass ein ganzes Menschenleben darin Platz finde und sich aufgehoben fühlen könne. Dass die Vertreter anderer Religionen aber über die gleiche Eigenschaft verfügten und einen zweiten, dritten, vierten usw. Raum markieren könnten, der so groß sei, dass ein ganzes Menschenleben darin Platz finde und sich aufgehoben fühlen könne. Bisher wissen wir nur, dass diese Glaubenssysteme nebeneinander existieren und jedes einzelne sich insgeheim am liebsten absolut setzen würde. Ist gegenseitige Akzeptanz bei Vertretern mit Universalerklärungsansprüchen überhaupt denkbar, hätte ich Juana gerne gefragt. Schließt nicht logischerweise der eine Universalerklärungsanspruch den anderen aus? Gibt es einen Weg aus diesen logischen Zirkeln und ihren mehr oder weniger versteckten aggressiven Potenzialen?
Gegenüber der Stiftskirche befindet sich die ehemalige Buchhandlung Heckenhauer, wo der junge Hermann Hesse eine dreijährige Lehre absolvierte und dann noch ein Jahr als Gehilfe blieb („mit monatlich 80 Mark“, wie er schrieb). Auch damals war an die Buchhandlung ein Antiquariat angeschlossen. Heute gibt es nur noch das Antiquariat im hinteren Teil des Gebäudes, das man über einen Flur und eine Treppe erreicht. Ich hatte mir tags zuvor die Fotos des alten Hermann Hesse angesehen, die im Flur in Glaskästen hängen und zeigte sie Juana (führte sie dorthin, und sie ging mit). „Kennst du Hermann Hesse?“, fragte ich sie. Sie verneinte. Hermann Hesse, schwirrte es mir durch den Kopf, habe ich in der Jugend mit größter Begeisterung gelesen. „Unterm Rad“, „Peter Camenzind“, „Demian“ usw. waren ursprüngliche Lektüreerlebnisse, die seitdem zu meiner inneren Biografie gehören. Aber es ziemte sich vielleicht nicht, Juana ein solches Geständnis zu machen. Stattdessen sprach ich nur davon, dass Hesse einer der meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts sei, auch wenn ihn die Universitäten als „Vertreter der traditionellen Erzählkunst in der dt. Lit. des 20. Jh.“ (Gero von Wilpert: Deutsches Dichterlexikon) weitgehend ignorierten. Es war langweiliges Zeug, was ich zu Juana sagte, als wir den Flur zum Heckenhauer-Antiquariat verließen und wieder auf den Platz vor der Stiftskirche traten.
Die Stiftskirche war geöffnet, aber der Chor mit der Grablege des württembergischen Herrscherhauses sowie der Aufgang zum Turm waren noch geschlossen, obgleich ein Schild verkündete, dass diese Sehenswürdigkeiten um fünfzehn Uhr zugänglich wären. Wir standen nach einem kurzen Rundgang in der Kirche wieder am Eingang und dachten, jetzt müsse eigentlich jemand kommen, der Chor und Turmaufgang für uns und andere bereits Wartende aufschließen und freigeben würde. Jeden Vorbeigehenden musterten wir, ob er unser Mann oder unsere Frau wäre, aber gemächlicher Gang und gleichgültiger Blick verhießen erst noch das Gegenteil. Plötzlich entdeckten Juana und ich einen grauhaarigen, bebrillten Mann um die Fünfzig, der mit einer Aktentasche unterm Arm auf uns zueilte und dabei den Ausdruck des verspäteten Diensthabenden besaß. Das könnte er sein, sagte ich zu Juana, die mir beipflichtete. Er war es auch und fragte, kaum dass er uns erreicht hatte, mit schwacher, angestrengter Stimme, ob wir … Ja, wir wollten; der Mann räumte vor einer Holztür eine metallische Absperrung beiseite, schloss die Tür auf und ließ uns eine enge Wendeltreppe zum Dachboden des Kirchenschiffes hinaufsteigen … Auf dem Weg zur Stiftskirche hatte ich zu Juana bemerkt – auf ihren Bericht vielfältiger Aktivitäten hin, die sie sich neben dem Studium auflud -, dass sie wohl keine Freundin des Müßiggangs sei und freie Zeit anscheinend nicht gut vertrage. Nun fragte sie mich, was ich neben meinem Beruf als Lehrer noch alles mache, während wir die enge Wendeltreppe zum Dachboden des Kirchenschiffes hinaufstiegen. Ich arbeite in der Schule in der Orientierungsstufe mit und in der Ganztagsschule, erklärte ich. Außerdem gebe ich einmal wöchentlich einem hochbegabten Mädchen mit Rechtschreibschwäche Deutsch-Nachhilfe und unterrichte während der Schulzeit vierzehntägig hochbegabte Kinder in Neuwied. Juana dachte, dass ich Gesa auch in Neuwied die Nachhilfe erteilen würde, aber das war nicht der Fall, sondern Gesa fuhr mit ihrer Mutter immer nach Mainz, um sich mit mir über die Besonderheiten ihrer Rechtschreibung im Vergleich mit dem Duden-Deutsch zu unterhalten. So viel machst du?!, fragte mich Juana zurecht. Und auch wenn ich konterte, dass wir in dieser Beziehung anscheinend Verwandte seien, hatte sie vollkommen recht. Ich machte nicht nur viel nebenbei, sondern zuviel. An einer Doktorarbeit schrieb ich auch nebenbei, und wenn die jemals fertig werden sollte, musste ich mich mit wenigstens ein oder zwei Aktivitäten zurücknehmen, das stand für mich durch Juana nun endgültig außer Frage. Ich hatte sie mit meiner Bemerkung gekontert, was sie zum Verstummen brachte, weil ich anscheinend recht hatte, aber fast im selben Moment wusste ich, dass ihre Skepsis gegenüber meinem Aktionismus berechtigt war.
Das Kirchenschiff mussten wir auf Brettern ablaufen, um zu den letzten Stufen zu gelangen, die – noch einmal wendeltreppenförmig -, hinaus auf den Turm führten. Hier bot sich uns „ein wunderbarer Ausblick auf Tübingen und die landschaftlich reizvolle Umgebung“, wie ein Stadtführer verheißt, aber ich spürte Beklemmungen, ein Schwindel, der mich ergriff, angesichts der Höhe, auf der ich mich befand, und der Tiefe unter mir. Ich schaute erst gar nicht über die runde steinerne Brüstung wie Juana, die sich frei fühlte und gleich das Panorama analysierte: Das da müsste die Jakobuskirche sein …, sondern hielt mich fest an der Brüstung mit ausgestreckten Armen. Juana merkte meine Einsilbigkeit, sie lief um den Turm herum, während ich es vorzog, wieder nach innen zu gehen, wo ich mich sogleich besser fühlte. Ich las die ausgehängten Informationen über die Türmerfamilie, die einst dort oben lebte, um ihre Mitbürger vor Bränden warnen zu können. Per Verordnung musste sie untersagt bekommen, ihre Nachttöpfe auf die armen Tübinger zu entleeren … Ich wartete auf Juana, die mir einen fragenden Blick zuwarf, als sie erschien. Ich reagierte nicht darauf, sondern machte sie sogleich (zur Ablenkung) auf die Türmerfamilie aufmerksam. Juana zeigte sich verwundert über den ungewöhnlichen Wohnort …
Beim Abgang passierten wir das Glockengestühl der Stiftskirche. Zum Teil jahrhundertealte Glocken, die, wie glücklicherweise der Großteil der Stadt, von Kriegsbomben verschont geblieben waren. Da hängen sie, wie schon seit Jahrhunderten, und müssten einmal den Mund aufmachen und erzählen, sagte ich zu Juana. (Aber was sollten sie sagen, gefangen in ihrem Glockengestühl seit Jahrhunderten?) Ich glaube, in „Dichtung und Wahrheit“ erzählt Goethe, wie ihn als Kind oder Jugendlicher die Trommelschläge der vorbeiziehenden Soldaten dermaßen enervierten, dass er das Geräusch nicht ertragen konnte und am liebsten geflohen wäre. Aber zur Selbsterziehung lief er extra noch neben den trommelschlagenden Soldaten her, um sich zu desensibilisieren, wie man heute sagen würde. So müsste ich es auch machen, würde ich in Tübingen wohnen: Jeden Tag hoch auf den Turm der Stiftskirche und hinaus- und hinuntergeschaut von luftiger Höhe!