Überraschende Wendungen in der Literaturphilosophie


Überraschende Wendungen in der Literaturphilosophie

 

Wendungen in der Literaturphilosophie? Gibt es überraschende Änderungen?

Ist die literarische Postmoderne tot? Nein, natürlich nicht, aber es gibt neuerdings auch andere Strömungen. Der Bonner Philosoph Prof. Dr. Markus Gabriel diagnostiziert 2017 einen „neuen Realismus“, demzufolge die Welt der Dinge wieder eine Bedeutung hat.

 

Das war in der Postmoderne, die als Philosophie den Poststrukturalismus hatte, nicht so: Die Zeichen, die Symbole, referierten untereinander, aber das Objekt der Bedeutung galt als „abwesend“. Dies ist schon durch die Moderne vorgegeben: Der wichtigste Bezugspunkt, Gott, wurde als abwesend erkannt. Der Mensch der Moderne war auf sich gestellt. Aber er definierte sich über seinen Intellekt. Philosophisches Denken war begriffliches Denken. Die metaphysische Tradition spaltete den Menschen in „Geist“ und „Leib“. Der Leib wurde als sündhaft verstanden und abgedrängt. So hat es auch die Psychoanalyse beschrieben. Doch dadurch wurde die dingliche Welt geringgeschätzt. Die „Materie“ war „irdisch“ und wurde verachtet. Der Philosoph beschäftigte sich mit dem rein Geistigen. Das war Metaphysik. Der Poststrukturalismus stellte dies auf den Kopf. Er sagte, statt der metaphysischen Wahrheit gibt es eine Kette von Symbolen, die aufeinander Bezug nehmen, aber sie haben keinen „Referenten“ mehr.  Markus Gabriel sagt, dass als typisch für die postmoderne Literatur das Spiel mit Zitaten und literarischen Gattungen gelte.

 

Die Literatur der Postmoderne war durch folgende Eigenschaften geprägt:

  • die Sprache ist wichtiger als die Aussage
  • der Text ist wie eine Zwiebel: eine Bedeutungsschicht überlagert die andere, aber in der „Mitte“ bleibt nichts übrig
  • es gibt kein erzählendes Subjekt, sondern immer nur die Bezugnahme auf andere, die bereits etwas geschrieben haben.

 

Doch in der heutigen Zeit, unserem „digitalen Zeitalter“, ist das nicht mehr anwendbar. Wir können Philosophie nicht mehr nur mit dem Kopf machen, wir brauchen auch den Körper und die Gefühle. Und wir müssen die gegenständliche Welt ernst nehmen. Was ist geschehen?

Unsere Zeit hat den Literaturtyp der Postmoderne nämlich durch neue Erfahrungen widerlegt. Vor allem die Autoren der Migration, die in ihrer neuen Sprache schreiben,

  • nehmen die gegenständliche, dingliche Welt ernst, denn sie müssen sich mit einer knallharten Alltagswirklichkeit auseinandersetzen (z.B. Ausländerbehörde, Bildungssystem u.s.w.)
  • wissen, was die „Abwesenheit des Referenten“ bedeutet, nämlich etwas Konkretes: Sie haben ihre Heimat verloren. Sie finden aber wieder „Präsenz“, indem sie sich eine neue Heimat erschließen.
  • für sie ist „Inhaltsleere der Sprache“ kein Thema, denn sie ringen um die Bedeutung der Worte in der neuen Sprache. Sie lernen, mit den Bedeutungsinhalten der alten und der neuen Sprache zu changieren.
  • wollen keine Minderheit, sondern ebenbürtige Repräsentanten in einer vielfältigen Gesellschaft sein

 

Markus Gabriel betont, dass die Postmoderne den Gedanken der Diversität und Vielfalt ermöglicht, ja hervorgebracht hat. Aber die Postmoderne hat eine Tradition der Moderne fortgeführt: Die Verdrängung der Gefühle und des empfindenden Körpers.  Die neue Literatur, die aus der Migrationsliteratur hervorgegangen ist, ist offensiv subjektiv. Es ist in Ordnung, wenn zwischen dem Autor und seiner Schrift ein autobiografischer Bezug besteht. Es ist nicht mehr peinlich.

Auch neue Themen sind möglich. In der Zeit der Moderne und Postmoderne gab es ein Wertegefälle zwischen dem „Erhabenen“ und dem „Banalen“. Das gilt für den neuen Realismus nicht mehr. Mikrostrukturen sind genauso wichtig wie großformatige Angelegenheiten. Beispiel: Stadtteilidentitäten. Wer hätte es vor 15 Jahren gewagt, einen Stadtteil auf der Basis seines emotionalen Bezugs zu ihm zu untersuchen? Wer hätte einen solchen Autor für voll genommen? Heute fördern die „Stadtteilhistoriker“ der Polytechnischen Gesellschaft in Frankfurt am Main genau das.

Zweites Beispiel: Die „sinnerfüllten Zeichen“. Im digitalen Zeitalter sind Bilder wichtiger geworden als Begriffe. Jeder postet Fotos und macht Selfies. Auch sind die philosophisch begabten Akademiker nicht mehr so wichtig in der Gesellschaft wie andere Gruppen. Und für die anderen Gruppen war es immer selbstverständlich, dass ein Zeichen auch eine Bedeutung hat. Die konkrete Welt des Handwerks, des Geldes, der Politik, der Technik ist der Radius, in dem wir uns bewegen. Und durch die sozialen Netzwerke werden die Erwachsenen wieder naiver: Sie schreiben einander Mails und Briefchen wie früher nur die Teenager. All das hat zur Folge, dass wieder unbefangener mit der Bedeutung von Zeichen umgegangen wird. Symbole tragen wieder einen Inhalt.

 

Hinzu kommt, dass das Hierarchiegefälle zwischen den „Sprachbegabten“, d.h. den begrifflichen Denkern und den Vertretern einer „nonverbalen Intelligenz“ eingebrochen ist: Der IT-Spezialist ist heute wichtiger als der Geisteswissenschaftler an der Universität. Literatur wird nur noch von kleinen Zielgruppen gelesen, die Mehrheit bedient sich nicht-schriftlicher Ausdrucksformen.

 

Und doch sehnen sich die Menschen wieder nach ästhetischen Sinngefügen – auch auf dem Gebiet der Sprache, der Literatur.

 

Die Literatur des neuen Realismus ist eine positivistische Strömung. „Positivistisch“ heißt: das Anwesende, Gegenständliche gilt als Sujet der Literatur und als Forschungsobjekt der Philosophie.

 

Für die Literatur heißt das,

  • dass sie sich mit Konkretem auseinandersetzt
  • dass sprachliche Spielerei auch immer auf eine Bedeutung verweist und nicht nur auf sich selbst
  • dass das erzählende Ich sich aktiv einbringt
  • dass mit autobiografischen und fiktiven Anteilen gespielt werden kann
  • dass die emotionale Freude an der ästhetischen Gestaltung Raum findet

 

Noch hat sich eine solche Literatur auf dem großen Markt nicht durchgesetzt, denn dieser ist noch stark vom Bisherigen bestimmt. Aber es gibt die neuen Tendenzen, man muss nur genau hinschauen.