DAS BÖSE IM ROMAN (Rezension von Thomas Berger)
Der Schmierfink von Dana Polz
Verwerflich ist das Böse, jener Gegensatz zum Guten, tadelnswert folglich der böse Mensch als Antipode des guten Menschen – so will es die Moral. Ist es auch die Intention von Literatur, das Böse und den Bösen als verabscheuungswürdig darzustellen? Vor allem: Besteht das literarische Profil des Buches Der Schmierfink, das die Autorin Dana Polz 2017 im Alter von 22 Jahren als Debütroman vorgelegt hat (Verlag edition federleicht), darin, der Leserschaft die mannigfachen Facetten von Gewalt und Machtmissbrauch eindringlich zu schildern, um das Gute als hehres Ziel – wenn auch unausgesprochen – obsiegen zu lassen?
Die Realität des Bösen kennen wir sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Gegenwart zur Genüge. Mephistopheles, schlau, wie er nun einmal ist, bringt unsere Erfahrung in Goethes Faust auf den Punkt: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ (2509) Die treffsichere Äußerung fällt in der Hexenküche, als Mephistopheles die Bezeichnung „Junker Satan“ von sich weist. So also sieht die Wirklichkeit aus: Der Teufel ist unserem Bewusstsein entschwunden, das Teuflische und die teuflisch Handelnden wirken kräftig fort. Davon weiß Linus Lopez, der junge Protagonist im Roman Der Schmierfink, ein vielstrophiges Lied zu singen. Die Stationen seines individuellen Kreuzweges: Misshandlungen durch den ihm innerlich ganz fremden Vater, Tabletten- und Drogensucht der Mutter, das Miterleben ihrer eiskalten Ermordung durch den Ehemann, Abschiebung ins Jungen-Internat durch die Pflegeeltern, Erniedrigungen und brutales Verhalten von Mitschülern und Lehrern in der Wohn- und Lehreinrichtung.
Ungeschminkt und schonungslos, für manche Leser gewiss die Ekelgrenze überschreitend, schildert die 1995 in Wiesbaden geborene Verfasserin die grauenhaften Erlebnisse aus der rückblickenden und die Zeitebenen wechselnden Perspektive ihrer Hauptfigur. Der Roman zeigt den souveränen Umgang mit verschiedenen sprachlichen Ebenen: mit authentischer Jugendsprache des Protagonisten, der sich selbst als „abnormales Kerlchen“ und „Feuerteufel“ bezeichnet, ebenso wie mit reflektierenden Passagen, beispielsweise der beinahe essayartigen Schilderung der Bedeutung, welche die bewussten Leseerfahrungen für ihn besaßen. Auch der sprachliche Bilderreichtum der Autorin ist beeindruckend.
Befinden wir uns, wenn uns das Erzählte fasziniert, im wirklichen Leben? Aber nein – es handelt sich doch, eigentlich unnötig zu sagen, um ein Buch, also um Literatur! Was in der Realität unter das Verdikt der Moral fallen würde, entfaltet sich dank schriftstellerischer Phantasie frei und ungehemmt. Literatur kann nicht im Prokrustesbett der Sittlichkeit verortet werden. Das Böse als Tatsache ist etwas ganz Anderes als das Böse im Roman. Das hat seinen Grund darin, dass gehobene Literatur kein getreues Abbild realer Verhältnisse sein will. Ihr Anspruch geht weit darüber hinaus, und das heißt in unserem Falle, dass Dana Polz mit ihrem Werk nicht auf billige Schockerregung abzielt, sondern eine künstlerische, eine ästhetische Absicht verfolgt. Sie kreiert mit den Demütigungs- und Gewaltschilderungen eine Sphäre der Imagination. Von Schriftstellern gilt in eminentem Maße, was der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga mit dem Ausdruck Homo ludens – so der Titel seines 1938 erschienenen Buches – charakterisierte: Das Spiel gehört zum Wesen des Menschen. Die Leser des Romans Der Schmierfink sind infolgedessen keine voyeuristischen Zaungäste des Bösen, das sie, fest verankert im moralischen Ordnungssystem, naturgemäß ablehnen. Auch sie lieben das geistig-seelische Spiel. Dazu lädt Dana Polz, dazu lädt Der Schmierfink ein.