Die Biertischgarnitur
Eine Erbengeschichte
Dritter Teil
Mit Laura im Flur und Wohnungseingang des Hauses stehend. Der Blick auf die Kellertür. Durch diese Tür hat mich die Stiefmutter geprügelt, vom Keller kommend, die Kellertreppe hoch und dann durchs ganze Haus bis in den zweiten Stock in mein Zimmer. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Ich verdränge die tiefste Ohnmacht, die sich sofort in mir verbreiten will. Ich schaue weg von der Kellertür zur Küche hin. Ich bin acht Jahre alt und habe gerade das Zeugnis der dritten Klasse (Halbjahres- oder Versetzungszeugnis; ich weiß nicht mehr) der Stiefmutter abgegeben. Ein bisschen unsicher bin ich natürlich, obwohl das Zeugnis gut ist, nur Einser und Zweier, keine Drei. Aber in „Betragen“ nur eine Zwei; ich weiß nie, was passiert. Die Stiefmutter hat sich das Zeugnis von mir noch im Flur geben lassen, ich habe noch die Straßenschuhe und vielleicht eine Jacke an, die Schultasche in der Hand. Die Stiefmutter ist mit dem Zeugnis in die Küche gegangen – fast schon geeilt – und liest es mit angelegentlicher Miene. Die Zwei in Betragen stört sie nicht, sie stürzt freudevoll auf mich zu, packt mich und wirbelt mich im Kreis herum. Ich merke, sie freut sich über sich selbst, weil sie mein gutes Zeugnis nicht mir, sondern sich selbst anrechnet. Sie wirbelt mich umher wie einen Gegenstand. Ich weiß, ich muss lächeln und anzeigen, dass ich ihre Freude gehorsam teile. Dann stellt sie mich wieder ab. Ich muss meine Schuhe ausziehen, die Schultasche wegräumen, vielleicht die Jacke ausziehen und den Tisch decken. Ganz von fern tauchte ein Gedanke auf in meinem Gehirn: Was hat die Stiefmutter beigetragen zu meinem Zeugnis? Als ich noch kleiner war und die Rechenaufgaben nicht verstanden hatte, hatte sie geschrien und damit gedroht, mich zu schlagen. Wenn ich in ihren Augen nicht schön genug ins linierte Heft geschrieben hatte, hatte sie geschrien und die Seite rausgerissen; damit die Lehrerin es nicht merkt, das dazugehörige zweite lose Blatt herausgelöst. „Das schreibst du jetzt alles noch einmal, und zwar ordentlich, sonst gnade Dir Gott!“ In der dritten Klasse hatte sie nur noch selten auf meine Hausaufgaben gesehen; deshalb der ferne Gedanke in meinem Gehirn, dass das gute Zeugnis doch eigentlich mir selbst zuzurechnen sei. Das Herumgewirbeltwerden durch die Stiefmutter zeigte dies nicht an. In der vierten Klasse war ich noch gut genug, dass ich aufs Gymnasium wechseln konnte. Aber dann ging in meinem sogenannten Elternhaus die Katastrophe vollends los: Prügel, Geschrei; Geschrei und Türenschlagen auch nachts zwischen meinem Vater und der Stiefmutter. Meine schlechten Zensuren nahm die Stiefmutter nur noch hämisch zur Kenntnis; wenn überhaupt. Ich blieb sitzen und wurde glücklicherweise in ein Internat verfrachtet, weil mein Vater begriff, dass er etwas tun musste, um das Problem mit mir zu lösen. Einmal examinierte mich der Vater während der fünften Klasse auf dem Gymnasium über Begriffe wie „Produkt“, „Summe“ oder „Quotient“, weil ihm zu Ohren gekommen war, dass meine Leistungen in Mathematik und Englisch bedenklich waren. Als ich die Begriffe durcheinanderwarf und allenfalls wusste, was eine Summe sei, winkte er müde ab und ließ mich stehen. – So war das in meinem sogenannten Elternhaus: da stand ich. Heute weiß ich als Lehrer, dass ich die Schülerinnen und Schüler abholen muss, wo sie stehen. Heute würde ich den Jungen, der ich war, abholen, wo er stand. Damals war nichts außer Ohnmacht und allenfalls ferne Gedanken in meinem Gehirn, dass das alles falsch war, was geschah.
Ich werfe einen Blick in die Küche, wo Bert am Herd hantiert und eine Mahlzeit zubereitet. Er wirkt sehr geschäftig, hebt auf meinen Gruß hin nur kurz den Kopf, gibt einen Laut gegen Laura und mich von sich und widmet sich wieder den Töpfen. Die Küche wirkt kleiner auf mich, als ich sie in Erinnerung hatte. Gilt das nicht für das ganze Haus, schon als ich es von außen sah, die Einfahrt, die Eingangstreppe? Aber als ich mein sogenanntes Elternhaus bewohnen musste, war ich klein, und das Haus schien mir ein mächtiges Gebäude zu sein, in dem die Stiefmutter herrschte und der Vater müde dreinschaute. Vollends die Küche war wie ein Gefängnis, denn hier konnte ich nicht wenigstens ein klein wenig für mich sein, sondern war der Kontrolle der Stiefmutter vollständig unterworfen. Am liebsten räumte ich die Spülmaschine aus, diese Tätigkeit nahm eine gewisse Zeit in Anspruch. Wenn ich etwas für den Haushalt tat, ließ mich die Stiefmutter in der Regel in Ruhe; die Arbeit wurde zum Schutzschild für mich. Um Gefahren seitens der Stiefmutter wenigstens zu minimieren, war ich kaum von der Schule zu Hause und fragte schon: „Mutti, kann ich dir etwas helfen?“ Fast immer hatte sie etwas für mich zu helfen. Spielen, Sorglosigkeit und Lachen vertrug sie nicht. Jedenfalls nicht bei mir. Ich sollte arbeiten, damit meine Existenz, die ihr zu viel war, die sie störte, permanent störte, ein klein wenig gerechtfertigt war. Hin und wieder kam es aber auch vor, dass sie in Geberlaune war. „Im Moment brauchst du nichts zu helfen. Nachher um eins deckst du den Tisch.“ Oder: „Um drei Uhr läufst du zum Schuster und holst die Schuhe ab.“ Oder: „Nachher gehst du einkaufen.“ „Ja, Mutti“, war das einzige, was darauf zu antworten war. Hatte sie irgendeine Uhrzeit genannt, behielt ich die Zeiger ängstlich im Auge. Ich wusste, dass sie mich nicht noch einmal daran erinnern würde, dass ich um eins den Tisch decken oder um drei Uhr zum Schuster laufen sollte. Dann setzte es mindestens eine Ohrfeige, weil ich nicht auf sie hörte, weil ich nur mein Vergnügen im Kopf hatte und nicht daran dachte, sie auch nur ein kleines bisschen zu unterstützen. „Entschuldigung, Mutti!“, war das einzige, was darauf zu entgegnen war.
Ich sehe mich abends in der Küche stehen, vielleicht in der vierten Klasse. Ich bin erschöpft von der Anspannung der vielen Stunden, seitdem ich von der Schule in mein sogenanntes Elternhaus gehen musste. Immer kann etwas passieren: ich habe etwas vergessen; es ist mir etwas zerbrochen oder missraten; ich habe ein falsches Wort gesagt und kann es nicht mehr zurückholen, weil es die Laune der Stiefmutter augenblicklich verdüstert und erbittert – und ich bin die Zielscheibe der Verdüsterung und Erbitterung. Selbst an Tagen, die ohne Aggressions-Katastrophen gegen mich verlaufen sind, bin ich abends erschöpft. Niemand weiß das. Niemand teile ich es mit. Niemand will es mir ansehen. Mein verstorbener Bruder Harry kommt mit dem Vater und Bert im Auto von der Arbeit zurück. Es ist gegen halb sieben. Er streckt seinen Kopf in die Küche, sieht, dass die Stiefmutter nicht da ist und fragt meine ältere Schwester Gerlinde: „Wie ist die Laune?“ Diese Frage stellt er jeden Abend. Wenn niemand der älteren Geschwister – Gerlinde oder Udo – da ist, fragt er es auch mich. Wie ist die Laune der Herrscherin des Einfamilienhauses? Worauf müssen sich die Untertanen einstellen? Jeden Tag geht diese Frage herum im Einfamilienhaus. Harry stellt die Frage abends, sobald er von der Arbeit zurückgekehrt ist. Für mich ist die Frage schon morgens vor dem Schulbesuch existenziell, und erst recht, wenn ich die vielen Stunden seit der Rückkehr von der Schule bis zum Abend mit der Stiefmutter aushalten muss, bis der Vater, Harry und Bert von der Arbeit wieder da sind. Warum werden die Herrschaftsformen auf staatlicher Ebene – Demokratie, Monarchie, Diktatur oder Terrorregime – nicht auch auf Familienstrukturen angewendet? Warum geht man davon aus, dass die Kontrolle familiärer Macht weitgehend unnötig ist und nur in Extremfällen angewendet werden muss? Was unterhalb dieser „Extremfälle“ alles geschehen kann, ohne dass sich eine staatliche Stelle zum Einschreiten genötigt sieht, ist unter anderem das Thema dieses Buches.
Im Jahr auf dem Gymnasium – 1969/70 – waren auch Gerlinde und Udo außer Haus. Gerlinde besuchte ein Internat in S. und kam nur zu den Ferien und vierzehntägigen Wochenenden ins sogenannte Elternhaus, Udo lebte in einem Lehrlingswohnheim, wo ihm der Vater ein Zimmer verschafft hatte. Nun war ich tagsüber allein mit der Stiefmutter. Nach dem Mittagessen legte sie sich hin und schlief eine Stunde. „Weckt mich um viertel vor drei“, sagte sie, „und keinen Mucks will ich hören!“ Wir sollten aber die Küche aufräumen vom Mittagstisch, meine beiden jüngeren Halbgeschwister Ulrike und Karl und ich. Wie war es möglich, jeden „Mucks“ zu vermeiden, wenn Geschirr und Besteck vom Tisch genommen, vorläufig abgewaschen und in die Spülmaschine gestellt werden sollte? Oder die Spülmaschine musste erst ausgeräumt werden, bevor sie wieder gefüllt werden konnte. Oder sie lief gerade, sodass nichts übrigblieb, als Geschirr und Besteck wie früher von Hand zu spülen und abzutrocknen. Wer durfte spülen? Wer musste abtrocknen? Ulrike wollte spülen, ich aber auch. Abtrocknen mochten wir nicht. Karl hielt sich zurück. Ein Gerangel. Ulrike hob die Stimme, da steckte ich zurück, aber es war schon zu spät. Obgleich die Stiefmutter erst in einer halben Stunde geweckt werden wollte, fragte sie nachher, wer den Krach verursacht habe, sie konnte gar nicht schlafen, so laut seien wir gewesen. Ich als der Älteste – und schon ging die Schimpftirade gegen mich wieder los. Keine Möglichkeit zur Verteidigung. Hätte ich den geringsten Versuch unternommen, wäre die Stiefmutter von verbaler Gewalt zu physischer Gewalt übergegangen. Das waren die Regeln in meinem sogenannten Elternhaus. Also schwieg ich – und musste auch in meinem Gesichtsausdruck aufpassen, dass keinerlei Trotz und Auflehnung sichtbar wurden, weil dies die gleiche Gewaltsteigerung bei der Stiefmutter verursacht hätte. Gab es überhaupt noch einen fernen Gedanken in meinem Gehirn, dass mir Unrecht geschah oder war ich in meiner vollkommenen Rechtlosigkeit in meinem sogenannten Elternhaus auch geistig unterworfen? Die triumphierende Miene Ulrikes. – Und dann fiel mir ein, als ich mich mit Laura vom Kücheneingang wieder zum Flur Richtung Wohnzimmer wandte, dass ich nach der Misshandlung, als mich die Stiefmutter buchstäblich durchs ganze Haus geprügelt hatte, am nächsten Morgen genau dort, wo ich jetzt mit Laura stand, gestanden war und der Stiefmutter einen guten Morgen wünschen musste, was sie mir mit finsterer Miene kaum hörbar erwiderte.
(Fortsetzung folgt)