Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil III)


Die unsichtbare Gefahr — Covid-19 (Teil III)

  1. bis 23.04.2020

 

„Wo aber Gefahr ist, wächst

Das Rettende auch.“ Hölderlin, Patmos-Hymne, 1803

 

Befasste sich der erste Teil dieser Essay-Reihe mit einem ersten, skizzenhaften Fakten-Check bzgl. des Corona-Covid-19 Virus, so zeigte der zweite Teil wesentliche Aspekte seiner Auswirkungen auf unser Leben: Existenz-Angst (= „horizontale Schockwelle“), ausgelöst durch die wirtschaftlichen Folgen des Shutdowns / Lockdowns; existentielle Angst (= „vertikale Schockwelle“), ausgelöst durch den möglichen Verlust unserer Gesundheit bzw. unseres Lebens sowie, nachfolgend ausgeführt, existentielle Angst, ausgelöst durch eine Flut an Informationen und Nachrichten.

 

Wenden wir uns im dritten Teil jener existentiellen Angst zu, die durch eine unkontrollierte Flut an Informationen, bloßen Meinungen, Fake-News, aber auch durch diesen widersprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen in uns ausgelöst wird. Welcher Nachricht, welcher Information können wir vertrauen?

 

Existentielle Angst, ausgelöst durch die sich widersprechende Flut an Informationen und Nachrichten aller Art:

Was Covid-19 als analoge Virus-Bedrohung für unser biologisches Lebens ist, das ist zur Zeit der digitale „Virus“ aus Meinungen, Tweets, WhatsApps, Fake News, und Propaganda -Nachrichten aller Couleur für unsere Psyche.

Menschen suchen, nicht nur in ausgesprochenen Krisenzeiten, stets nach „Sicherheit“, sowohl in äußeren Situationen als auch bzgl. der eigenen Meinung. Wer sich selbst als unsicher erlebt und/oder wahrnimmt, der sucht zunächst nach Sicherheit im Außen. Nimmt er die Bedrohung jedoch im Außenbereich seiner Um- und Mitwelt wahr, so sucht er nach bestätigender Sicherheit im Innen, d.h. man versucht seine eigene Meinung mittels neuer „Argumente“ oder bestätigenden Meinungen von Anderen abzusichern, zu verstärken, zu harmonisieren und vor allem: man versucht diese Meinung für sich selbst als „richtig“ und „wahr“ erscheinen zu lassen. Ein schier endloser „bolstering effect“ innerhalb eines offenen Systems (vgl. Medienwirkungsforschung; Coombs et al. ). Das heißt, man wendet sich aktiv den weitgestreuten Informationen zu, da man seelische Sicherheit benötigt, wo Unsicherheit herrscht; Vertrauen, wo Zweifel regiert; Halt, wo sich Abgründe auftun.

„Need for orientation“, ein anderer Terminus aus der frühen Medienwirkungsforschung (vgl. u.a. McCombs u. Shaw, 1972, „Agenda-Setting“), beschreibt diesen psychischen Vorgang im Umfeld politischer Meinungs-Bildung. Damals, in einer Zeit, da ausschließlich Printmedien, Radio- und TV-Sender als „Massenmedien“ über die „Welt da draußen“ informierten, als sie die einzigen Nachrichten-Kanäle für die Bevölkerung darstellten, nahm man an, dass diese Medien zwar nicht bestimmen könnten, was der Leser, der Hörer, der Fern-Seher, denkt, wohl aber, worüber er nachdenkt und welches Thema er als wichtig erachtet und präferiert. Massenmedien als „Meinungs-Macher“. Damals wie heute. In Deutschland erfüllt(e) diese Funktion u.a. die „BILD“-Zeitung. Die Meinungs-Macher „setzen“ ein Thema auf die Nachrichten-Agenda, um es in den Fokus der Öffentlichen Meinung zu rücken, oder aber sie nehmen es ganz gezielt heraus, damit nicht darüber nachgedacht und gesprochen werden kann (praktisches Beispiel: 2020, Covid-19 Pandemie versus parallel verlaufender Influenca-Welle). Daher: „Agenda-Setting„. Die Crux: Das Agenda-Setting formt lediglich ein vereinfachtes, mithin stereotypes Bild einer „Medien-Realität“, es beschreibt jedoch nicht die Realität, wie sie „vor Ort“ stattfindet; weder als „Nachricht“ noch als „Information“. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Anders gesagt: Der springende Punkt bei „Nachrichten“ bzw. „Informationen“ ist folgender: Eine echte „Rohinformation“ ist für Privatleute kaum zu erhalten, da wir nie „vor Ort“ und direkt im Geschehen sind. Wir sind keine „Augenzeugen“ des Geschehens, selbst dann nicht, wenn es mit dem Zusatz „live“ als solches konnotiert wird. Wir „Mediennutzer“ erhalten meist „Nachrichten über die Welt“, nicht jedoch Rohinformationen von der Welt. Die Beschaffung von Rohinformationen ist Aufgabe und Grundlage von professionellem, investigativem Journalismus‘. Professioneller Journalismus ist methodischer Journalismus, d.h. er folgt klaren Richtlinien, hierarchisch strukturierten Methoden (z.B. Recherche zweier, voneinander unabhängiger Quellen zu einem Thema), um einen verborgenen Sachverhalt „ans Tageslicht“ zu bringen oder einen bereits bekannten Sachverhalt mit neuer Information zu vertiefen. Journalisten arbeiten Redakteuren bzw. Redaktionen zu. In den 1980er Jahren war der sog. „Qualitäts-Journalismus“ in den Händen von wenigen, weltweit agierenden Agenturen konzentriert, wie etwa AP, UPI, AFP, dpa, Reuters, etc.pp. . Deren Agentur-Korrespondenten lieferten die Rohinformationen für Redaktionen, die daraus ihre „stories“ machten. In den Redaktionen der seriösen TV-Sender sowie der sog. „Qualitäts-Zeitungen“ wiederum durchlaufen, damals wie heute, diese Rohinformationen einen mehrstufigen sog. „Gatekeeper-Prozess“, d.h. die Chefredakteure mit ihren Teams entscheiden anhand von „Nachrichten-Faktoren“ und anderen Standards, welcher Artikel welche Priorität auf der Tages-Agenda erhält, mit welchem Leitartikel „aufgemacht“ wird, u.v.a.m. . Sie legen damit die Hierarchie der Wichtigkeit bzgl. einer Nachricht fest. So werden auf diese Weise aus Rohinformationen „Qualitäts-Nachrichten“ gemacht. Diese bilden — in der Tönung einer „redaktionellen Linie“ — Medienrealität ab, nicht jedoch: die  Realität. Allein diese Prozesse — von der Rohinformationen zur fertigen Qualitäts-Nachricht — sind inzwischen so umfangreich und vielschichtig, dass ihre Darstellung, und sei sie nur ansatzweise versucht, den hiesigen Rahmen bei weitem sprengen würde. (vgl. zu diesem Thema den Spielfilm mit Robert Redford: „Der Moment der Wahrheit“, 2015) Wer sich über die Fakten des Qualitäts-Journalismus‘ bzw. von Qualitäts-Nachrichten informieren möchte, findet im Internet die gesamte Entwicklung der Nachkriegszeit recht gut aufbereitet vor.

Ganz anders als im Qualitäts-Journalismus und den Redaktionen, die einem Berufs-Ethos verpflichtet sind und ihre Arbeit anhand von überprüfbaren Methoden und festgelegten (Nachrichten-)Standards erledigen, verhält es sich im Bereich der digitalen Medien. Durch die digitale Welt der Tweets, Posts, der Apps u.v.a.m. erheben nun auch bloße Meinungen, ja sogar Fake News (= Falsch Nachrichten) und schiere Propaganda den Anspruch, gleichberechtigt und gleichwertig bzw. gleichrangig neben Qualitäts-Nachrichten stehen und bestehen zu dürfen. Verschwörungs-Theorien stehen gleichwertig neben Fact-Sheets von Wissenschaftlern. Bloße Neigungen und Gefühle erheben den selben Anspruch auf allgemeingültige Richtigkeit, wenn nicht sogar auf Wahrheit, wie methodisch abgesicherte Froschungs-Ergebnisse und Fakten hinsichtlich der Corona-Pandemie einerseits und Qualitäts-Nachrichten zu diesem Thema andererseits. Weder sind die Herkunft noch die Quelle dieser Tweet-Nachrichten nachvollziehbar und bekannt. Bloße Meinung bis hin zum Gerücht erheben in der digitalen Welt den Anspruch der Deutungs-Hoheit gegenüber wissenschaftlichen Fakten und Qualitäts-Nachrichten. Das ist das derzeitige „Informations-“ und „Nachrichten-„Dilemma während der Covid-19 Pandemie. Was folgt hieraus?

 

Die Überforderung unserer Psyche im digitalen Agenda-Setting

Wir verstehen: Heute gibt es ein weitaus komplexeres und umfangreicheres Agenda-Setting im intergalaktischen Raum der digitalen Welt, als vor 40 Jahren. Ununterbrochen fluten nun irgendwelche „Nachrichten“ in unser Tages-Bewusstsein, und somit in unsere Psyche. Der Signalton unserer SmartPhones steht nicht mehr still. „Nachrichten“ aller Couleur, überwiegend ohne irgendein überprüfbares Qualitäts-Merkmal, dergestalt, dass sie wenigstens auf sachliche Information, mithin wenigstens auf „Richtigkeit“, beruhen würden. Jeder, der eine Tastatur bedienen kann, ist nun sein eigener „Journalist“, sein eigener „Redakteur“, sein „Influencer“, sein eigener Arzt, Virologe, Covid-19-Spezialist, etc.pp. geworden. Alle wissen  wir alles zu diesem und jedem anderen beliebigen oder auch brisanten Thema. Die digitale Info-Basis macht dies möglich. Und alle können  wir auch alles. Ist das richtig? Ist das  wahr??

Wenn jegliche „Nachricht“ — sei es als Tweet, sei es als WhatsApp, sei es als SMS, sei es als Online- oder Zeitungs-Artikel — als gleich richtig, als in seiner Information gleich gültig, als in seinem sachlichen Bezug zum Thema als gleich wahr gesetzt wird, dann verunsichern wir selbst uns selbst in unverantwortbarem Ausmaß. In der Widersprüchlichkeit aus Meinungen, Fake-News, Propaganda, Nachrichten und — im seltensten Fall — Informationen, droht unserer Psyche der seelische Kollaps. Dennoch sind wir zur Zeit so sehr verunsichert, dass wir die aktive Zuwendung zu all diesen Tweets und WhatsApps gar nicht unterdrücken können. Schließlich suchen wir verzweifelt nach einem „Halt“ innerhalb  der Covid-19-Misere. Doch mit unserer Sucht nach Orientierung und unserer Suche selbst nach völlig unkritischen, teilweise auch völlig unsachlichen „Was-auch-immer“-Informationen, bringen wir uns selbst in immer größere Not, in immer umfangreichere Unsicherheit (z.B. Wem können wir überhaupt noch etwas glauben? Wem können wir jetzt noch vertrauen? Was können wir jetzt noch wissen — und welches „Wissen“ könnte uns nun Sicherheit verleihen??). Diese Informations-Flut hat zur unmittelbaren Folge, dass wir bald bloßen Meinungen als „echten Fakten“ blindlings vertrauen, ihnen Glauben schenken, während wir hier bzgl. ihres Wahrheitsgehaltes besser zweifeln sollten; und dass wir zugleich sachlich korrekte Informationen in ihrer Faktizität bezweifeln, denen wir zwar vertrauen könnten und dies auch sollten, da sie als Erkenntnis das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeiten sind, die jedoch durch die bloßen Meinungen in-Frage-gestellt, konterkariert und bezweifelbar werden. Bloße Meinungen stehen (gefühlsmäßig) gleichberechtigt und gleichwertig neben Fakten (reines Bauchgefühl ersetzt Statistik…); und Fakten / wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch Qualitäts-Nachrichten, werden durch bloßes Dafür-Halten in-Zweifel-gezogen. Es ist ein psychisches Chiasma, das sich zunehmend zum Dilemma auswächst. Ein unlösbarer Wider-Spruch, der umso umfassender wird, je mehr wir uns in diesem Informations-Strudel verlieren. Die Crux des bolstering effects in einem offenen System…— Denn nun ist, unbemerkt von uns, der Zweifel selbst in dieser emotionalen Gemengelage unser Vertrauens- und Wissens-„Kompass“ geworden.

Jeder sieht ein, dass ein solches Verhalten keinerlei Sicherheit — weder wissensmäßig noch gefühlsmäßig — generieren kann. Und was im ersten Teil für die Exponentialfunktion der Infektionen galt (vgl. Schachbrett-Parabel, 264-1 Reiskörner), dies gilt nun als „digitaler Meinungs-Macher-Virus“ für unsere Suche nach Orientierung, nach Sicherheit, nach emotionalem Halt: Jeglicher gelesener Tweet, jegliche gelesene WhatsApp, etc.pp. hinterlässt in unserem Tages-Bewusstsein, aber auch — und das ist bei weitem gravierender — in unserem Unterbewusstsein, eine Spur. Jeder kennt einen, der einen kennt, der „Spezialist*in“, mindestens aber „Doktor*in“, oder gar „Viruloge/-in“ ist. Und der oder die haben gesagt: „Stellen Sie sich einmal vor…!“, oder: „Fakt ist doch nun einmal, dass…“, und vieles ähnliches mehr. Das jedoch ist der „Mühlstein“, der in dieser Zeit der allgemeinen Unsicherheit all unsere Hoffnung, all unsere Zuversicht, all unsere Selbst-Sicherheit zu zermahlen und unser psychisches „Gleichgewicht“ zu vernichten droht. Indem wir völlig unkritisch beliebige „Informationen“ zum Thema „Covid-19“ suchen, die unsere Neigungen zum unsachlichen Glauben-Wollen bedienen, bringen wir selbst uns selbst in höchste Not. Eine seelische Not, die sich bzgl. des Themas bis zum Irrationalen steigern kann. Deshalb gilt es einen vernünftigen Mittelweg im Dschungel der Überinformation zu finden. Es gilt, wie so oft im Leben, das „rechte Maß“ an Qualitäts-Informationen und Fakten zu wahren.

 

Fortsetzung folgt.

 

 

Quellen und Hinweise

National:

Pandemie-Karte Deutschland, Bundesländer

Robert Koch-Institut: Covid-19 Dashboard

https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4

 

Pandemie-Karte Deutschland, Landkreise; RKI: Covid-19 Dashboard

https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_1/

 

Corona-Ausbreitung in Hessen

https://www.hessenschau.de/panorama/infografik-wie-sich-corona-ausbreitet—und-wen-es-betrifft,corona-infektionen-hessen-karte-100.html#Regionale_Verteilung

 

Corona-Ausbreitung in RP / BW

https://www.swr.de/swraktuell/coronavirus-karte-100.html

 

 

Forschungszentren u. Institute

Robert Koch-Institut, RKI, Berlin

https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html

 

Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung GmbH, HZI, Braunschweig

https://www.helmholtz-hzi.de/de/wissen/themen/keime-und-krankheiten/coronaviren/

 

Institut für Virologie am Universitäts Klinikum Bonn, Leiter Prof. Hendrik Streeck

https://www.ukbnewsroom.de/wichtige-informationen-zum-coronavirus/

 

Institut für Virologie, Berliner Charité, Leiter Prof. Christian Drosten

https://virologie-ccm.charite.de/

 

NDR-Podcast, Prof. Christian Drosten

https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html

 

 

International:

World Health Organization, WHO — Covid-19 Weltkarte

https://experience.arcgis.com/experience/685d0ace521648f8a5beeeee1b9125cd

 

World Health Organization, WHO — Covid-19 Weltkarte

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019

 

Johns-Hopkins-University & Medicine, Baltimore, Maryland

https://coronavirus.jhu.edu/

 

Covid-19 Dashboard, Johns-Hopkins-University & Medicine, Baltimore, Maryland

https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6

 

Covid-19-wiki, nur eines von vielen

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie#cite_note-36

 

Covid-19-wiki für Deutschland

https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland