EIN PLAN


 

aus: Thomas Berger, Andernorts. Erzählungen
Edition Märkische LebensArt Storkow (Mark) 2017, Seiten 30/31

 

EIN PLAN

 

Wie weit, grübelte Konrad Unteregge nicht zum ersten Mal, würde die Phantasie ihn tragen, wie lange würde der Geist immer neue Figuren und Lebenswelten erschaffen? Die Zeit, die noch vor ihm lag, war schier unermesslich, jede Stunde konnte ihn zu Boden stürzen. Der Plan, den er von Anfang an hegte, hegen musste, um zu überleben, erschien ihm so gut wie aussichtslos. Scheiterte er mit seinem Vorhaben, verließ ihn die Kraft der Vorstellung auf dem beinahe unendlichen Weg, blieb ihm, das stand für ihn unumstößlich fest, nur die pure Verzweiflung, die nackte Panik übrig − es wäre das Ende.

 

Von solcherlei Gedanken geplagt, ermannte sich Unteregge, wiederum Seite um Seite zu füllen. Zweieinhalb Jahre, drei Wochen und zwei Tage waren bewältigt, die von ihm beschriebenen Blätter bereits in beachtliche Höhen gewachsen.

 

Die Nachbarn, denen er bei den Mahlzeiten oder im Hof begegnete, setzten ihm heftig zu mit Pöbeleien und Beleidigungen, die hier wiederzugeben gewiss unschicklich wäre. Er verargte es ihnen nicht, ließ sie gewähren; sie konnten nicht wissen, wie es in seinem Inneren aussah, nicht ahnen, dass er buchstäblich um sein Leben schrieb. Sie interessierten sich nur dafür, die Zeit, in welcher sie auszuharren hatten, auf irgendeine banale Weise totzuschlagen. Und das gelang ihnen offenkundig immer wieder. Solche Stumpfheit, ja Abgebrühtheit ließen Unteregge erstaunen; sie waren ihm völlig fremd. Er stand an jedem Morgen vor dem entsetzlichen Abgrund, den er überbrücken musste  ̶  Stück für Stück, Wort für Wort.

 

Noch sah er längst nicht das Land jenseits der tiefen Schlucht. Nicht seine Tat, nicht seine Schuld beschäftigten ihn. Einzig, hinüberzugelangen, beseelte ihn tagaus, tagein. Mit jedem neuen Satz, mit dem er sein schon immenses Werk bereicherte, rückte er dem Ziel näher, fühlte er ein wenig mehr Boden unter den Füßen. Das waren Momente seines verschwiegenen Glücks, welchen die Eintönigkeit des verhassten Daseins an dieser Stätte nichts anzuhaben vermochte.  Derartige Augenblicke waren freilich stets bedroht: Oftmals musste er sich nagender Zweifel erwehren, ob er fortzusetzen vermöchte, was er seinem Kopf abgerungen hatte.

 

Doch es gelang. Nach vier Jahren, zwei Wochen und drei Tagen öffneten sich für ihn die Tore, trat er in die ersehnte Weite. Er schob einen Karren vor sich her. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen. Tränen entrollten seinen Augen, wenn er sanft mit der Hand über den Berg der Worte strich. Als Mauern und Zellen, Zäune und Wachtürme nicht mehr zu sehen waren, ließ er die Last, die ihn gerettet hatte, endgültig los. Tief sog er die Luft der Freiheit ein.