Das Hanau-Attentat — Versuch einer Differenzierung, Teil 1
24.02.2020
Um eines gleich an den Anfang zu stellen: Meine Anteilnahme, meine Empathie, mein Mitleid gehört den Angehörigen der Opfer, den Hinterbliebenen, denen, die unsägliches, unfassbares Leid erdulden müssen, denjenigen, die ganz ohne irgendeine Schuld in diese mörderische Situation heinein-geraten sind, ohne eigenes Hinzutun, gleichsam zufällig und dennoch „schicksalshaft“. Eine unbegreifliche Situation. Meine Anteilnahme gehört jenen (Groß-)Eltern und Verwandten, die durch diesen Mord-Anschlag ihre Kinder und jenen Geschwistern und Verwandten, die ihre Brüder und Schwestern oder Cousins und Cousinen verloren haben. Meine Anteilnahme gehört Hanauer Bürger*innen, gehört den betroffenen Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Religion, Staatsangehörigkeit oder „Migrationshintergrund“. Menschen haben durch einen Attentäter geliebte Mitmenschen verloren, das ist der eigentliche Verlust, den es zu betrauern gilt. Das ist die unfassbare Tragödie. Für jeden von uns.
Und als nächstes: Die Schuld des Täters bleibt untilgbar seine Schuld. Das Nachfolgende soll nichts „beschönigen“, soll nichts „minimieren“ noch „kleinreden“. Es soll: differenzieren. Das heißt: Aus der Fülle von Indizien sollen anhand von einigen Fakten wesentliche Unterschiede herausgestellt werden.
Die Fakten:
In der Nacht von Mittwoch (19.02.2020) auf Donnerstag (20.02.2020) erschießt gegen 22:00 Uhr Tobias R. in der Hanauer Innenstadt sowie im Stadtteil Hanau-Kesselstadt zehn Personen und zuletzt sich selbst. Die meisten Opfer sind Hanauer Bürger*innen mit Migrationshintergrund, d.h. ihre (Groß-)Eltern sind einstmals legal nach Deutschland eingewandert, haben hier gearbeitet, Familien gegründet, ein völlig normales Leben geführt. Ihre Kinder haben deutsche Schulen besucht, ihre Ausbildung absolviert, hatten Ideen und Träume wie hunderttausend andere 20- und 30-Jährige auch. Ihr einziges Verhängnis: Sie waren am Mittwoch, den 19.02., gegen 22:00 Uhr in jenen Shisha-Bars bzw. Café, die Tobias R. als Ziel für sein Attentat ausgewählt hatte.
Vom mutmaßlichen Attentäter wissen wir einige biographische Daten, seine letzte Adresse und dass er „Sportschütze“ war. Er besaß die benutzten Waffen legal, auf „Waffenschein“. An persönlichen Quellen hinterläßt er mehrere Videos, eines davon in fließendem Englisch, das er an das amerikanische Volk adressiert sowie ein 24-seitiges Pamphlet, das neben wirren, tw. psychotischen Gedanken, auch Versatzstücke der Pamphlete von Utøya (Norwegen, 2011), Christchurch (New Zealand, 2019) sowie Halle an der Saale (2019) enthält. Dies sind die Passagen des rassistischen Narrativs. Über Tobias R. lagen bis dato wohl keinerlei polizeidienstliche oder staatsanwaltliche Erkenntnisse vor. Nach Einschätzung der forensischen Psychiaterin Nahlah Saimeh weisen einzelne Passagen des Pamphlets auf eine schwere psychotische Erkrankung, wahrscheinlich eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, hin.
- Differenzierung:
Sollte sich die Einschätzung der forensischen Psychiaterin durch andere, täterbezogene Quellen — etwa sichergestellte SmartPhone-Aufzeichnungen, PC-Dokumente, u.ä.m. von Tobias R. — bestätigen, so liegt dem Täter-Profil eine psychische Krankheit zugrunde, die zeitweise inneres Erleben und äußere Faktizität vertauscht und beides von einander nicht mehr zu trennen noch zu unterscheiden ermöglicht. In einer solchen Phase ist für Tobias R. sein persönlicher Wahn identisch mit äußerer Realität gewesen. Die Genealogie, der Ursprung dieser psychischen Krankheit mag über Jahre und Jahrzehnte zurück liegen und in der vita des Tobias R. mal vordergründig (als öffentlich sichtbare Verhaltens-Störung) mal eher hintergründig (als quasi normales Leben) gewirkt haben. Eher unwahrscheinlich ist jedoch, dass Rassismus, Frauenfeindlichkeit, etc.pp. die Ursachen der Schizophrenie bildeten. Dagegen dürften sie jedoch passende „Puzzlesteine“ für den sich steigernden Hass und die ausufernde Paranoia bei Tobias R. gewesen sein.
Die nichtwahnhafte, die gesunde Seite des Tobias R. konnte studieren, Abschlüsse machen, konnte „ganz normal“ arbeiten, Hobbies pflegen, so dass die psychische Erkrankung phantomhafte Züge annehmen konnte, das heißt: nach außen hin konnte Tobias R. zeitweise als „völlig unauffällige Person“ erscheinen, konnte gleichsam ein „völlig normales Leben“ in der Gesellschaft führen, ohne jedoch gesund bzw. „normal“ gewesen zu sein. Tatsächlich war Tobias R. wohl psychisch „schwerstkrank“ und hätte der ärztlichen Hilfe bedurft. Andererseits könnte es sein, dass die wahnhafte Seite des Tobias R. ihre Wirklichkeit in den „Echokammern“ der hermetischen Internet-Foren (vgl. Darknet) auslebte. Dort also, wo man nur „auf Empfehlung“ von Mitgliedern ebenfalls Mitglied werden kann. Womöglich verstärkten diese „Echokammern“ und „Filterblasen“ die psychotische Erkrankung des Tobias R. . Wir wissen dies nicht. Auch wissen wir nicht, ob Tobias R. sich tatsächlich „tage-“ und „nächtelang“ in dieser Pseudo-Realität der „Echokammern“ aufgehalten hat. Erst die Auswertung seiner PC-Daten und IP-Protokolle wird hierüber gesicherte Erkenntnisse geben. Kriminologisch ist diesen „Sub-Netzen“ und hermetischen Foren jedoch nur sehr schwer beizukommen. Und ist dies technisch möglich, so fehlt es in den zuständigen Behörden meist an professionellem Personal, um die jeweilige „Szene“ auszuheben… Dennoch, und das beweisen die verschiedenen Kriminalstatistiken, sind die allgemeinen Fallzahlen der Kriminalität in Deutschland rückläufig, während die Fallzahlen für „politisch motivierte Kriminalität, rechts“ (PMK – rechts) in den letzten beiden Jahren rasant anstiegen. Nur um das Gesagte einordnen zu können: Von 36.062 bekannten Straftaten PMK entfielen 2018 auf „PMK-rechts“ 20.431, auf „PMK-links“ 7.961, auf „PMK-religiöse Ideologie“ 586 (Quelle: BKA, „politisch motivierte Kriminalität – rechts“, dort „Lage“, darunter: „PMK 2018, Bundesweite Fallzahlen“). Realität und persönliche Wahrnehmung von Kriminalität in Deutschland klaffen mithin auseinander — bei jedem von uns. Auch scheint die Aufklärungsrate bei Straftaten allgemein zu steigen; gleiches gilt für die bearbeiteten Fälle vor deutschen Gerichten. Das heißt: Exekutive und Judikative funktionieren in Deutschland. Daraus folgt: Anders als bei Tobias R. und anderen Rechts-Terroristen, die Selbstjustiz übten, liegt in Deutschland die Ausübung „staatlicher Gewalt“ (die Strafverfolgung, die Verurteilung, der Vollzug der Strafe, etc.) immer noch und ausschließlich bei staatlichen Behörden (Polizei, Kriminalpolizei; BKA, LKAs; Gerichten, etc.pp.). Anders gesagt: Wer in Deutschland Selbstjustiz übt — ob aus rechter, linker, religiöser oder sonstiger Motivation heraus — ist selbst ein Straftäter, eine Straftäterin. Diese Tatsache wird in Teil 2 relevant sein.
Zwar mag Tobias R. im juristischen Sinne aufgrund seiner Krankheit nur bedingt schuldfähig gewesen sein. Im menschlichen Sinne ist er jedoch an den Opfern vollumfänglich schuldig geworden. Eine Schuld, die unaufhebbar für immer mit seiner Person verbunden bleibt. Und diese Tatsache gilt ebenso für alle anderen, nachfolgenden, politisch motivierten Straftäter — von rechts, von links oder religiös motiviert.
Geradezu reflexartig hörte man nach dem Attentat von Hanau erneut die Rufe nach schärferen Gesetzen. Die Frage ist jedoch, ob und inwieweit das geltende Strafrecht im Falle einer psychischen Erkrankung überhaupt Anwendung finden kann. Denn sollte sich, wie im Falle von Tobias R., eine psychische Krankheit als Fakt erweisen, so ist es nach geltendem, deutschen Recht m.E. nicht möglich, einen psychisch Kranken quasi präventiv in „Beugehaft“ zu nehmen, solange er keinen Straftatbestand erfüllt hat. Das heißt: Polizei und Justiz hatten vor dem Attentat in Hanau keinerlei rechtliche Handhabe gegen Tobias R. . Daraus folgt für den Bereich der Gesetzgebung: die Verschärfung von bestehenden Straf-Gesetzen greift im Falle von psychischen Erkrankungen an der Abwehr einer möglichen Gefahren-Situation vorbei; sie bringen weder eine zusätzliche Sicherheit für die Bürger*innen, noch reduzieren solche Gesetze die Wahrscheinlichkeit für spätere (Nachahmer-)Attentate. Solange es sich bei den möglichen Attentätern um erkennungsdienstlich unauffällige Personen handelt, sind verschärfte Gesetze ein „gänzlich untaugliches Mittel“ der Prävention (vgl. Anschlag in Volkmarsen, 24.02.2020). Und selbst die von Bundesinnenminister Horst Seehofer vorgeschlagene psychologische Begutachtung von Waffenschein-Besitzern ist insofern wenigstens fragwürdig, als dass es sicherlich ebenso viele illegale Waffen in deutschen Haushalten gibt, wie registrierte legale. Last but not least: Selbst die schärfsten Gesetze und drakonische Strafen entfalten keinerlei abschreckende Wirkung auf jene Einzeltäter oder Täter-Gruppen (Stichwort: „rechtsterroristische Vereinigung“, „Gruppe S.“; Hamm), sofern sich Bürger*innen nicht an sie gebunden fühlen. Die „Achillesferse“ jeglicher Demokratie: Sie lebt davon, dass sich der größere Teil der Bevölkerung, der Gesellschaft, der Bürger*innen an geltendes Recht gebunden fühlt und selbst durch ihr aktives Einstehen und Vorleben dieser Gesetze zum „lebendigen, einenden Band“ der Demokratie wird. Ganz anders hierzu die Positionen und Zielsetzungen der AfD und ihres faschistischen „Flügels“, die systematisch und gezielt mit Hass und Hetze, mit Rassismus und Faschismus-Parolen dieses „einende Band“ zu zersetzen suchen (Teil 2).
Hinweise und Quellen
welt-online, 27.02.2020
Fallzahlen des Bundeskriminalamtes (BKA)
die Fallzahlen für politisch motivierte Kriminalität befinden sich unter „Lage“
Forschungsprojekte Terrorismus / Extremismus (BKA)
Kriminalstatistik Hessen, 2019
https://www.polizei.hessen.de/ueber-uns/statistik/kriminalstatistik/
Beratungsnetzwerk gegen Rassismus, Hessen
https://www.beratungsnetzwerk-hessen.de/
Meldeplattform „#Hessen gegen Hetze“
Plattform des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
https://www.demokratie-leben.de/