Halle, Saale — ein Pittsburg (PA), ein Christchurch (NZ) 2.0?
11.10.2019
Als ich in den Abendnachrichten des 09.10.2019 zuerst den Video-Clip über den mutmaßlichen Attentäter von Halle an der Saale sah, fielen mir sofort die parallelen Handlungs-Stränge zum Massaker von Pittsburgh, PA, (27.10.2018) sowie zum Massaker von Christchurch, NZ, (15.03.2019) auf: Weißer schießt auf Betende. In Pittsburgh waren es ebenfalls Juden in einer Synagoge; es war Sabbat. In Christchurch waren es Moslems in einer Moschee; es war Freitagsgebet. In Halle nun war es zu dem Yom Kippur, das jüdische „Versöhnungsfest“, der höchste jüdische Feiertag.
Aber auch das ging mir durch den Sinn: Wenn dieser schwerbewaffnete, in Kampfmontur geschützte Attentäter kein Neonazi sein sollte, der ganz gezielt Juden zu liquidieren sucht, könnte sich sein Angriff vielleicht auch als blutiges Statement gegen die Gedenkfeiern zum 30-jährigen Fall der Mauer und damit in eins den Untergang der DDR richten? Schließlich war der Ort dieser Gedenkfeier das nahegelegene Leipzig, wo die Feierlichkeiten zeitgleich stattfanden. Könnte der Attentäter also aus den Reihen der „Reichsbürger“, etc. oder der „Identitären“-Bewegung stammen?
Und noch eines fiel mir sofort auf: die Helmkamera. Wie zuvor schon in Christchurch filmt diese Kamera das Geschehen aus der Perspektive des Attentäters. Wie bei den weitverbreiteten „Killer-„, „Kriegs-“ sowie „Hass- und Gewalt“-Spielen. Euphemisch gerne als „Games“ verharmlost; deren Spieler*innen als „Game-Community“ heruntergespielt und camoufliert. Aus vermeintlich „harmlosem Spiel“ an der heimischen Konsole wird unversehens weltweit blutige Realität in Gotteshäusern, Schulen, Einkaufszentren, kurz: in der Öffentlichkeit.
Am Abend des 10.10.2019 wussten wir Genaueres: Stephan B. hatte neben mehreren Waffen auch noch ca. 4 Kilogramm Sprengstoff — teilweise in Form von selbstgebauten Sprengkörpern — in seinem PKW; er ist 27 Jahre jung; er lebte einerseits analog-real in der Nähe von Halle an der Saale, wie er andererseits zugleich auch emotional-digital in einer der o.g. „Game-Communities“ lebte; angeblich radikalisierte er sich in dieser Game-Szene zum Rechts-Terroristen sowie in rechtsradikalen sog. „Echo-Kammern“, einer inzwischen weltweit vernetzten, rassistisch-nationalistischen „Bubble-World“; mit seiner Tat kopierte er sowohl den Attentäter von Christchurch, Brenton Tarrant, was das Streaming-Video und die Montur anbetrifft, als auch den Attentäter von Oslo und Utøya (22.07.2011), Anders Breivik, was die Tendenz seiner Weltanschauung und Ideologie anbetrifft, um mit seiner Tat weltweite Anerkennung (in der rechtsnationalen, rechtsterroristischen Szene sowie seiner Game-Community) zu erlangen. Es grenzt geradezu an ein Wunder, dass Stephan B. vor allem an sich selber scheiterte, da es ihm trotz mehrfacher Versuche nicht gelang, ins Innere der hallensischen Synagoge einzudringen. Stellvertretend erschoss er eine 40-jährige, völlig unbeteiligte Passantin sowie einen 20-jährigen Mann in einem Döner-Imbiss. Er wechselte spontan die „Zielscheiben seines Hasses“ aus und suchte sich andere „targets“. Es heißt ferner, Stephan B. habe sich im Unterschied zu Stephan Ernst (Attentäter Walter Lübckes), der reale Beziehungen zu Rechtsradikalen und Neonazis pflegte und sich über diese Kontakte sodann radikalisierte, ausschließlich über die digitale Welt der Gewalt-Spiele sowie der Neonazi-Foren radikalisiert. Eine völlig neue Qualität zum Aufbau und Verbreitung einer weltweiten, „globalen“, gewaltbereiten Underground-Society mit ihren digitalen Foren auf jedem Kontinent. Der qualitative Unterschied zu anderen Radikalisierungs-Bewegungen besteht m.E. darin, dass diese speziellen Underground-Communities jeglichen Kontakt zur Realität abgebrochen haben, durch die sie sich permanent bedroht fühlen und sich deshalb, was ihre Ideologien anbetrifft, völlig in eine hermetische „Bubble-World“ zurückgezogen haben. Ihre emotionale „harmonische Komfortzone“, in ihrer Sicht eine „Schutzzone“, ist rein digital. Ihre Welt-Anschauung — d.h., was für sie Bedrohungs-Welt ist, wenn sie sich in der analog-realen Welt umschauen, und was für sie Heile-Welt ist, wenn sie Grenz-überschreitend chatten — gründet überwiegend auf sich selbst verstärkende Digital-Meinungen, Digital-Überzeugungen und hermetischen Meinungs-Mustern, die außerhalb ihrer „Bubble-World“ zurecht als irrational und irreal bezeichnet werden, da sie in der realen Welt keinerlei Pendants noch zu dieser irgendwelche „Berührungspunkte“ aufweisen. Rückzug ins private, d.h. der Öffentlichkeit entzogene, Irreale. Eine verhängnisvolle Verkehrung aus Realität und persönlichem Erleben: Denn das, was uns Anderen als real gilt, ist diesen Menschen entweder „irreal“ oder aber existentiell bedrohlich; und das, was ihnen als „real“ gilt, ist (uns) irreal. Stephan B.’s „Manifest“ gehört in diesen Kontext.
Natürlich konnte ich in meinem letzten Blog-Beitrag „Ent-Grenzungen“ (06.10.2019) nicht ahnen, dass es nach dem rechtsterroristischen Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (02.06.2019) durch Stephan Ernst kurze Zeit später zur nächsten rechtsterroristischen Ent-Grenzung, nun gegen eine jüdische Gemeinde kommen würde. Aber wer heutzutage politisch interessiert ist, wer für die Schwingungen und vor allem für die sich auftuenden Abgründe in der Gesellschaft sensibel, wer „wach“ und wachsam ist, der kennt und weiß um die reale Gefahr in Deutschland, in Europa, in der Welt durch sog. „Rechtsradikale“. Und man muss wahrlich keine Propheten-Gabe besitzen, um vorhersagen zu können, dass der rassistische Sog, der zur Zeit in immer breitere und tiefere Bereiche der „gesellschaftlichen Mitte“ ausgreift und dort seine verheerende Attraktion entfaltet, die Intervalle zwischen solchen rechtsterroristischen Attentaten kontinuierlich verkürzen wird. Bei 24.000 polizeilich registrierten Rechtsradikalen und davon 12.000 hochgradig gewaltbereiten Personen allein in Deutschland ist dies nahe-liegend. Die „Game-“ und Underground-Communities nicht eingerechnet. Was ich seinerzeit in meinem Blog-Beitrag „Macht-Übernahme“ vom 20.06.2019 bereits skizziert habe, das fand am 09.10.2019 seine nächste konkrete und konsequente Fortsetzung in Halle an der Saale.
Politisch gesehen, erodieren einer-seits weltweit die ehemaligen Demokratien zu Diktaturen, euphemisch gerne als „Autokratien“ bezeichnet, siehe Trump, Putin, Bolsonaro, Kazcynski, Orbán, Erdoğan, etc.pp. . Deren „vorbildhafte“, rassistischen Ent-Grenzungen in coram publico liefern die „Blaupause“ für jegliche moralische Ent-Grenzung im Privat-Bereich. Wie anderer-seits die privaten Meinungen — bis hinein in die „Mitte der Gesellschaft“ (welche Werte definieren inzwischen diese „Mitte“…—?) — sich stets umfassender und beschleunigter ent-grenzen, um ihrerseits nun in rechtsnationale bzw. rechtsradikale bzw. rechtsterroristische Geistes-Haltungen, Sprach-Strukturen, Verhaltens-Muster und Handlungs-Stränge abzustürzen. Soziologisch äußert sich dieses Phänomen u.a. in der Ausgrenzung und dem Vernichtungs-Vorsatz all dessen, was innerhalb der rechten Szene als „Anders“ und „Fremd“ klassifiziert, abgestempelt und vor allem ent-wertet wird. Das können demokratische Werte wie etwa „Pluralität“/“Pluralismus“ und Redefreiheit sein, das können gesellschaftliche Gruppen wie etwa Feministinnen oder Homosexuelle sein, das kann eine andere Hautfarbe, Frisur oder Barttracht sein, das kann eine andere, als die „gültige“ Physiognomie (arisch: „blond & blauäugig“) sein, um nur einige rechte Stereotypen zu benennen. Es gilt: Alles , was „anders“ zu sein scheint und in der eigenen Echo-Kammer keinen Platz hat, wird in der rechten bzw. rechtsradikalen Bewegung per se als existentielle Bedrohung empfunden und erlebt, und deshalb als (Volks-)“Feind“ interpretiert und mit allen Mitteln diffamiert, gehasst, bekämpft, in letzter Konsequenz „ausgerottet“ oder liquidiert. Das Anders-Sein einzelner Personen bzw. ganzer gesellschaftlicher Gruppen wird in den heutigen „braunen Ideologien“ einer generellen Ent-Wertung und Stigmatisierung unterworfen. Ein Meinungs-Muster, das in Europa bis in die 1920er Jahre zurückreicht; letztlich jedoch bereits in der Antike nachgewiesen werden kann (vgl. u.a. die historischen Ursachen für Progrome und Genozide durch die Jahrhunderte hindurch). Was in den 1970er und 80er Jahren der politisch motivierte Linksterrorismus war — etwa der sog. „Baader-Meinhof-Komplex“ für Deutschland durch die sog. „RAF“, die unterschiedlichen „roten Zellen“ und Kampfverbände quer durch Westeuropa — hat sich in den beginnenden 2000er Jahren deutschland-, europa- und weltweit in einen rein fiktional motivierten Rechtsterrorismus gewandelt. Und was einstmals rechtsradikale Diktaturen in Nazi-Deutschland, in Europa, aber auch in Lateinamerika waren, das diffundiert heute als „neue, braune Ideologien“ auf Grundlage reiner Fiktionen erneut „in die Mitte der Gesellschaften“. „Global“, weltweit. Paradoxon: Demokratisch ausgerichtete Gesellschaften, werden mittels demokratisch verbriefter Werte (vgl. Rede-, Meinungs-, Pressefreiheit, etc.pp.) zu undemokratischen Diktaturen umfunktioniert (jüngstes Beispiel: Kazcynski’s Wahlerfolg bei den Parlamentswahlen am 13.10.2019).
Um ein uns warnendes Brecht-Wort in abgewandelter Form zu zitieren: Denn der geistige Schoß, aus dem einstmals diese Entmenschlichung des Menschen kroch, ist fruchtbar wie ehedem — er lebt und gebiert auch heute noch…— (vgl. Bertolt Brecht, Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Epilog, 1957)
Neben vielen seriösen Quellen in Printmedien und Internet finde ich die beiden Diskussionsrunden bei Maybrit Illner und Markus Lanz (10.10.2019) ebenfalls informativ.
Hinweise:
Maybrit Illner: Anschlag in Halle — tödlicher Judenhass in Deutschland
Markus Lanz
https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-10-oktober-2019-102.html