Wenn der ganze Horizont weggewischt wurde, dann ist es zum Beispiel in der Gesellschaft ein Einfaches, nach persönlichem gusto „total frei“ zu sein. Man frönt in coram publico seiner „Autonomie“, lebt also eine rein private Eigen-Gesetzlichkeit. Darin stört weder eine Moral noch ein Gewissen, weder gibt es irgendwelche Skrupel noch sonstige Handlungs-Hemmnisse. Ent-Grenzung eines Mainstreams in Richtung „Ellenbogen-Gesellschaft“ bzw. konfettihafter „Einzelkämpfer-Gesellschaft“.
Zoomen wir im gesellschaftlichen, öffentlichen Raum in den individuellen Persönlichkeits-Bereich hinein, so wird sichtbar: staatlich verankerte, positive oder gesatzte Rechte werden immer häufiger außer Kraft gesetzt und durch persönliche Eigen-Gesetze ersetzt. Es gilt die Maxime: Ich selbst gebe mir selbst je nach Laune und Gegebenheit jenes „Gesetz“, das mir selbst am besten in meine jeweilige Gefühls-Lage passt. Ich bin der Staat. Wir sind das Volk…— Ent-Grenzung der Moral in Richtung Opportunisten-Autonomie (gr. autós für ich selbst, und nomós für Gesetz).
Einige Beispiele:
Öffentlicher Raum, Straßenverkehrs-Ordnung: Jeder weiß, dass es verboten ist, Auto, E-Bike/Scooter/Roller, etc.pp. zu fahren und gleichzeitig zu chatten oder zu telefonieren. Ebenso weiß jeder, dass wir nicht umfassend kontrolliert werden können. Also folgen wir unserer momentanen Neigung und chatten und telefonieren, wann und wo auch immer wir dies wollen.
Jeder weiß, dass es verboten ist, über eine rote Ampel zu fahren. Da die Kontrolle nicht an jeder Ampel gegeben ist, fahren immer häufiger Verkehrsteilnehmer*innen einfach weiter. Was schert sie die Ampel-Farbe und damit ineins die Gebote bzw. Verbote?! Diese spielen in ihrer Wirklichkeit keinerlei Rolle. Regeln und Gesetze sind für diese Menschen dazu da, dass sie gebrochen werden können.
Selfies am Unfallort: Jeder weiß, dass es verboten oder zumindest moralisch verwerflich ist (Stichwort: „ungeschriebene Gesetze“), an einem Unfallort Selfies zu drehen, und durch dieses Verhalten die Rettungskräfte zu behindern, die Leben von (Schwer-)Verletzten zu retten versuchen. Die eigene Egomanie erschafft diesen Menschen jedoch ad hoc das Eigen-Recht, dieses Selfie zu drehen und sogleich ins Internet hochzuladen, um es mit „Freunden“ zu teilen. Völlige Ent-Grenzung einer persönlichen Eigen-Mächtigkeit.
Noch absurder wird die ent-grenzte Situation, wenn Gaffer sich regelrechte Schlägereien mit den Hilfsdiensten (Polizei, Feuerwehr, Rettungssanitätern, etc.) liefern, nur um ihr Selfie am Unfallort drehen zu können. Inzwischen eine alltägliche Realität. Völlige Ent-Grenzung jeglicher Moral in Richtung „privates Ermächtigungs-Gesetz“.
Wenden in der Rettungs-Gasse: Jeder weiß, dass es verboten und auch strafbar ist, in der Rettungsgasse von Autobahnen bzw. Bundesstraßen zu wenden, um durch dieses Verhalten dem lästigen Stau zu entgehen. Dennoch ist dies Realität; der Verkehrsfunk muss die Unterlassung solch fahrlässigen und gefährdenden Verhaltens ausdrücklich betonen. Nietzsches „Schwamm“ ist getränkt mit hybrisartiger, privater Autokratie: Ich selbst bin mir selbst der alleinige Gesetzes-Geber.
Jeder kann diese Listung mit hunderten von eigenen Beobachtungen und Erfahrungen fortschreiben.
Zoomen wir im privaten Raum in den individuellen Persönlichkeits-Bereich hinein, so wird sichtbar: das W3 mit seinem offiziellen Internet und seinem privaten Darknet, legt die menschlichen Abgründe offen. Dr. Jeckyll mutiert immer öfters und stets abgründiger zu Mr. Hyde.
Einige Beispiele für die Grenzen-lose bzw. völlig ent-grenzte Verrohung der Menschen:
Das Attentat von Christchurch: Am 15. März 2019 tötet der Rechtsterrorist Brenton Tarrant über 50 Menschen und verletzt 50 weitere tw. schwer. Er filmt sein Massaker mit einer an seinem Helm angebrachten Streamcam. In Windeseile verbreitet sich dieses Video über facebook, YouTube und andere „soziale Netzwerke“. Das Massaker-Video wurde am 15. März einmal pro Sekunde auf YouTube hochgeladen. Facebook gibt an, in den ersten 24 Stunden 1,5 Mio. Kopien des Videos gelöscht und weitere 1,5 Mio Uploads verhindert zu haben.
Im Klartext heißt dies: 3 Millionen Menschen weltweit befriedigten ihre persönliche, pervertierte Sensationslust, indem sie selbst das Massaker „vor laufender Kamera“ ansahen, gut fanden und nun ihrerseits den Live-Stream an Gleichgesinnte posteten, oder letzteres doch wenigstens versuchten. Die Spitze einer globalen Entmenschlichung des Menschen. Ent-Grenzung des Menschen durch „Killer-Spiele“, durch das Medium einer „Spiele-Konsole“…—? Bedenken wir: Das Medium „Internet“ mit seinen Netzwerken wie etwa „facebook“ transportiert lediglich das Phänomen (gr. phaino; für zeigen, sich zeigen) einer Grenzen-losen Verrohung immer breiterer, gesellschaftlicher Schichten. Analoge Realität wird lediglich digital verbreitet — um persönlich konsumiert zu werden.
Der jahrelange Kindesmissbrauch von Lügde: Auf einem Campingplatz in Elbrinxen, OT der nordrhein-westfälischen Stadt Lügde, werden im Zeitraum von 2008-2018 über 40 Kinder von drei Männern sexuell missbraucht. Das Landgericht Detmold geht im Prozess von über 1.000 Straftaten in diesem Zeitraum aus. Bei einem der Angeklagten wird umfangreiches, kinderpornographisches Material sichergestellt. Der Skandal innerhalb dieses Skandals ist jedoch, dass Polizei und Behörden extrem schlampig „gearbeitet“ haben, indem sie elterlichen Hinweisen nicht nachgingen, Beweismaterial auf dem Camping-Grundstück geflissentlich „übersahen“ oder bereits sichergestelltes Beweismaterial der Beschuldigten verschwinden ließen.
Das wahrhaft Monströse dieses Falles ist jedoch seine Alltäglichkeit. Denn: Lügde ist inzwischen überall. So meldete etwa die New York Times (01.10.2019), dass allein facebook und Google in 2018 über 45 Mio. Fotos und Videos von Kindesmissbrauch meldeten. Wohlgemerkt: meldeten. Die Dunkelziffer dieses Markt-Segmentes, allein im öffentlichen Bereich des Internetes, dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Facebook und Google sprechen von mehr als einer Verdoppelung derartiger Fotos und Videos zu 2017, also binnen eines Jahres.
Im gleichen Jahr, 2017, wurde die Kinderporno-Plattform „Elysium“ mit ca. 87.000 Usern ausgehoben. Sie operierte über das sog. „Darknet“. Ähnlich wie beim Kokain und anderen Drogen, steigen die Konsumer-Zahlen bei der Kinderpornographie exponential an. Und ähnlich wie beim Drogenhandel, den illegalen Waffengeschäften, den Schlepper-Banden rund ums Mittelmeer, so ist auch Kinderpornographie ein milliardenschweres Markt-Segment einer flourierenden Schatten-Wirtschaft geworden.
Was also ist mit dem ent-grenzten Menschen los? Welcher Art und Qualität ist sein „Schwamm“, dass er jeglichen kulturellen, moralischen, sittlichen Horizont wegzuwischen, vom-Tisch-zu-wischen, ja gänzlich auszulöschen vermag? Basiert seine heutige „Tollheit“ (s.o. Nietzsche, Der tolle Mensch) auf Grund-legender Angst..—? Gründet seine Motivation zur abgründigen Destruktion auf mörderischer, nihilistischer Aggression…—? Stürzt er, der moderne Prometheus als Luzifer (lat. aus lux, lucis für Licht und fero für tragen, bringen; also der „Licht-Träger“ als der „Licht-Bringer“), in die Klüfte und Abgründe seiner je eigenen, menschlichen Natur? Licht-Gestalt, Wechselbalg und Nacht-Wesen zugleich…—?