Otto Lause
Erzählung, erste Folge
Mit einem Bekannten saß ich in einem Cafe in B. Wir unterhielten uns über die Jugendzeit, die ich in eben diesem B. in einem längst geschlossenen kirchlichen Internat verbracht hatte. Ein alter Mann war unser Sitznachbar, anscheinend wollte er hören, worüber ich mit meinem Bekannten sprach. Als mir seine nicht besonders aufdringliche, aber doch permanente Konzentration auf unser Gesprächsthema zu viel wurde, blickte ich ihn fragend und etwas missmutig an. Er lächelte milde, was meinen inneren Groll gegen ihn schon abschwächte, und meinte nur:
„Ich war auch einmal im B.er Internat.“
Für einen Moment verstummte ich. Saß mir Otto Lause, der Rektor des Internats von 1971-1973, gegenüber?
„Sie sind…?“, stammelte ich fast.
„Otto Lause“, ergänzte er.
Wie vor den Kopf geschlagen gab ich ihm die Hand und stellte mich ihm vor, erklärte, dass ich seine beiden Rektoratsjahre erlebt hatte als Quintaner und Quartaner und begeistert sei, dass mich der Zufall nach vierzig Jahren noch einmal mit ihm zusammengeführt habe.
Er nickte mit dem Ausdruck einiger Verlegenheit. Sein Rektorat war nicht erfolgreich gewesen, er hatte die Aufgaben als Internatsleiter mit gutem Willen, aber ohne die notwendige Professionalität bewältigen wollen und war nach zwei Jahren resigniert ausgeschieden. Trotzdem hatte mir seine Persönlichkeit einen unverlöschlichen Eindruck gemacht. Otto Lause gehörte zweifellos zu den Menschen, die einem Rätsel aufgeben und die man deshalb im Gedächtnis behält.
Mein Bekannter beobachtete die neue Situation zunächst mit interessiertem Staunen und verabschiedete sich dann taktvoll. Ich war ihm dankbar und versuchte ihm noch ein freundliches Wort auf den Weg zu geben.
Da saß ich ihm gegenüber: Otto Lause, meinem alten Rektor, und konnte es immer noch kaum glauben. Ich fragte ihn, ob ich ihm etwas anbieten dürfe (er hatte die ganze Zeit vor einer ausgetrunkenen Kaffeetasse gesessen und, wie es mir vorgekommen war, mit Appetit auf die Linsensuppe gesehen, die ich gelöffelt hatte). Er wehrte bescheiden ab, aber ich bat ihn um die Erlaubnis, ihn zu meinem Gast machen zu dürfen. Damit würde ich mich nur revanchieren wollen für die Einladungen, die er seinerzeit an uns Schüler gerichtet hatte, wenn wir eine Eins in einem Hauptfach geschrieben hatten. Er war dann mit dieser wechselnden Einsergruppeeinmal monatlich in die Stadt zum Hähnchenessen gegangen und anschließend, auf dem Rückweg, noch in eine Kneipe auf eine Limonade. Als ich ihm dies erzählte, lächelte er wieder auf seine Art, er schien sich genau daran zu erinnern, und fragte mich:
„Und Sie waren auch in dieser Gruppe? Für welches Fach?“
„In Deutsch“, antwortete ich wie damals, als er schon jeden von uns Schülern, der sich der Einsergruppeanschließen wollte, gefragt hatte, welchem Fach er die Teilnahme verdanke.
„Ah, in Deutsch!“, nickte er anerkennend. Ich kam mir vor wie in einer Filmszene, wo eine Figur noch einmal erleben darf, was wichtig für sie gewesen, aber schon lange vorbei war.
„Haben Sie mit Ihrer damaligen Begabung beruflich etwas angefangen?“, fragte er.
Jetzt sah ich mich wieder in die Gegenwart versetzt. Aber bevor ich antwortete, wiederholte ich meine Einladung an ihn.
„Wie ist es? Darf ich Ihnen eine Linsensuppe und vielleicht noch einen Kaffee bringen?“
Sein sekundenlanges Zögern nahm ich als Zustimmung und ging schon an die Theke, um die Bestellung aufzugeben. Die Linsensuppe wurde in der Mikrowelle erhitzt, der Kaffee (ich bestellte eine große Tasse) eingegossen. Ich bezahlte, griff nach dem Tablett (mit einem Brötchen zur Suppe) und ging eilends zurück zu unserem Platz. Mit großer Dankbarkeit sah mich Otto Lause an, als ich ihm guten Appetit wünschte. Ich wollte ihm nicht zusehen beim Essen, weil es ihn vielleicht in Verlegenheit gebracht hätte, sondern stand noch einmal auf, um einen weiteren Earl Greyzu bestellen, der mir sogleich überreicht wurde.
Er schien tatsächlich großen Hunger zu haben. Steckte er in Geldnöten? Seine Kleidung und etwas heruntergekommene Erscheinung deuteten darauf hin. Aber wie konnte das sein? Lag nicht ein Arbeitsleben hinter ihm? Reichte seine Rente nicht aus?
Plötzlich sagte er:
„Der Mensch braucht wenig, um zufrieden zu sein.“
Dazu lächelte er auf eine ergreifende Art, die mich wieder ganz für ihn einnahm und mich neugierig machte, endlich das Geheimnis seiner Persönlichkeit zu ergründen.
Ich fragte ihn, welchen Kuchen er zum Nachtisch wünsche, aber er winkte glaubhaft ab.
„Dann vielleicht eine Zigarre? Im Konvikt haben Sie immer Zigarren geraucht.“
„Ich darf Ihre Liebenswürdigkeit nicht missbrauchen.“
Jetzt war es an mir, das entscheidende Wort zu sprechen:
„Herr Lause, Sie ahnen nicht, wie wunderbar ich es finde, Ihnen hier zufällig wieder begegnet zu sein!Im Lebenhätte ich doch nicht damit rechnen dürfen! Sie haben damals am Konvikt einen großen Eindruck auf mich gemacht. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen mit geringen Gaben zur Seite zu stehen; wenn Sie mir dafür die Freude machen, mich noch ein wenig mit Ihnen unterhalten zu dürfen, wäre ichder Beschenkte, nicht Sie!“
Er sah mir mit kurzem, anerkennendem Nicken in die Augen (schon zum zweiten Mal heute!) und signalisierte mir sein Einverständnis.
Ein Tabakladen ist hier gleich schräg gegenüber, meinte ich. Wollen wir gehen?
Sein Nicken kam freudig, und obgleich ich beobachten musste, dass er nicht mehr ganz sicher auf den Beinen stand, schien ihn die Aussicht auf eine Zigarre zu beflügeln.
„Früher haben Sie mich anders herumlaufen sehen“, meinte er lächelnd, „aber es geht noch einigermaßen.“
„Ja“, bestätigte ich, „früher haben Sie in der Mittagspause mit den Internatsschülern Fußball gespielt. Das war im Vergleich mit Ihrem distanziert-strengen Vorgänger, den ich noch ein Jahr lang erlebt hatte, beinahe eine Revolution gewesen.“
„Nun ja“, meinte er wieder lächelnd und fragte dann (wie um nicht weiter von seinem Rektorat zu reden), mit Blick auf unsere beiden Tabletts:
„Sollten wir das Geschirr nicht wegtragen? Ich glaube, das machen die meisten Gäste hier.“
„Ja, richtig“, antwortete ich, und griff schon nach unsren beiden Tabletts, um sie zur Geschirr-Rückgabe zu stellen. Ehrlich gesagt, hätte ich sie – wie es einige Gäste auch taten – heute einmal auf dem Tisch stehen lassen, weil ich nur an Otto Lause dachte und mich innerlich noch ganz berauscht fühlte über die zufällige Begegnung mit ihm. Aber das war nicht recht, ich durfte den Bedien-Frauen hinter der großen Theke diese Mehrarbeit nicht zumuten.
Wir gingen hinaus auf die Fußgängerzone und wenige Schritte zum Tabakladen. Bevor wir ihn erreicht hatten, meinte ich:
„Dort habe ich mir zu Konviktszeiten meine erste Pfeife gekauft, und ich glaube, auch noch eine zweite.“
„Ja, Pfeiferauchen!“, lächelte er von neuem, „eine feine Sache.“
Ich erwartete, dass er sagen würde, dass ihm die Zigarren aus diesem oder jenem Grund lieber als Tabakspfeifen seien, aber er beließ es beim Lob des Pfeiferauchens.
Den Laden wollte er nicht vor mir betreten, aber ich bestand darauf. Wie lange war ich nicht mehr hier drin gewesen! Damals – tatsächlich vor bald vierzig Jahren! – standen zwei Frauen mittleren Alters zur Bedienung da, und nun waren es wieder zwei Frauen – sehr alte Frauen, vielleicht achtzig Jahre alt. Wahrscheinlich hatten sie mich als Jugendlichen schon bedient, ich unterdrückte aber meine Neugier, sie danach zu fragen. Sie begrüßten uns, und ich äußerte meinen Wunsch nach Zigarren…
„Eine milde Sorte?“, fragte eine der beiden alten Frauen.
Ich schaute Otto Lause an:
„Wäre Ihnen das recht?“
„Oh ja“, antwortete er, „eine milde Sorte, das wäre schön!“
Die andere alte Frau griff nach einer Kiste und reichte sie ihrer Schwester, Freundin oder Arbeitskollegin?, die nach der milden Sorte gefragt hatte. Diese öffnete den Deckel und ließ Otto Lause riechen.
„Wunderbar!“, lobte er mit dankbar-bescheidenem Lächeln, in dem ich ein stilles Glück bemerkte.
„Wie viele dürfen es sein?“, fragte die Dame und wusste anscheinend nicht, wen sie dabei anschauen sollte, Otto Lause oder mich.
„Ach, fünf Stück“, meinte ich „Und Streichhölzer! Zwei Schachteln! Alles gleich für den Herrn, bitte!“, sagte ich mit kurzem Fingerzeig auf Otto Lause.
„Sehr wohl!“
Ich bezahlte, und wir verabschiedeten uns von den beiden alten Frauen. Wieder auf der Fußgängerzone fragte ich Otto Lause:
„Wollen wir vielleicht zum Konvikt gehen oder mit dem Taxi dorthin fahren?“
„Ach, mir scheint, es wäre nicht gut“, meinte er und fügte hinzu: „Es hat mir seinerzeit einige Mühe bereitet, mit meinem Weggang fertig zu werden …“
Ich war enttäuscht, verstand ihn aber durchaus. Das ehemalige Konvikt besaß für ihn eine gänzlich andere Bedeutung als für mich. Mir war es der Ort gewesen, wo ich die Träume geträumt hatte, über die es heißt, dass man ihrer achten solle, wenn man Mann sein wird. Für Otto Lause war das Konvikt dagegen ein Ort des Scheiterns gewesen. Er hatte sich nicht verständlich machen können mit seiner Art zu denken und die Schwierigkeiten des Alltags zu meistern.
(Fortsetzung folgt)