IDENTITÄT UND WANDEL


„… worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch) Identität und Wandel – aktuelle europäische Herausforderungen. Vortrag zum Europatag

(Auszug)

IDENTITÄT UND WANDEL

 

In der Formulierung des Themas erscheinen die Begriffe Identität und Wandel. Sowohl personale Identität, die Übereinstimmung des Einzelnen mit sich selbst, als auch überindividuelle Identität, beispielsweise das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Nation, entwickeln sich in einem Zusammenspiel von Identifikation und Unterscheidung. Ein Kind findet zu sich selbst durch die Bindung an die Eltern und zugleich durch die Abgrenzung von ihnen. Die Angehörigen einer Nation werden zu einer Gemeinschaft, indem sie das Gefühl erlangen, bestimmte Ansichten, Eigenschaften und Verhaltensweisen miteinander zu teilen und sich dadurch von anderen Nationen zu unterscheiden. Es kommt nun auf beiden Ebenen, der individuellen und der kollektiven, darauf an, dass Identität nicht exklusiv verstanden wird; die eigenen Merkmale dürfen nicht überbetont, verabsolutiert werden. Denn Identität ist keine ein für alle Mal feststehende Größe, sondern sie wandelt sich, und zwar in einem Prozess der Begegnung, der Auseinandersetzung. Treffend formulierten diesen Gedanken so unterschiedliche Geister wie Johann Wolfgang von Goethe (1) und Ernst Bloch. „Man weiss erst daß man ist wenn man sich in anderen findet“, schrieb der „Dichterfürst“. Und der Tübinger Philosoph bemerkte: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darumwerden wir erst.“ (2)

 

Identität ist mithin nicht ohne Wandel zu gewinnen. Das gilt auch für die europäische Identität. Europa, das zeigen die aktuellen Herausforderungen, auf die ich jetzt zu sprechen komme, muss sich verändern. Eine Reihe von Reformvorschlägen liegt auf dem Tisch. Entscheidend wird sein, welche Reformen auf welche Weise und zu welcher Zeit umgesetzt werden. Die Menschen in den europäischen Ländern werden nur dann das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität bewahren beziehungsweise entfalten, wenn sie überzeugt sind, dass sich die Europapolitik den gegenwärtigen Schwierigkeiten stellt und tragfähige Lösungen erarbeitet, dass sie insbesondere im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik für den Schutz der Bürger sorgt. Ein weiter Weg liegt noch vor uns, ehe vielleicht eines Tages ein europäisches Heimatgefühl die Bürger erfüllt – zweifellos eine wahre Herkulesaufgabe für die EU. Gelänge ihre Bewältigung, wäre dies in der Tat etwas völlig Neues, nämlich die Verbindung von Ortsgebundenheit und Weite, von regionaler Verwurzelung und übernationalem Gemeinschaftsgefühl.

 

QUELLEN:

(1) Johann Wolfgang von Goethe, Briefe. An Auguste Gräfin zu Stolberg,

  1. Februar 1775

(2)  Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main

1970, Seite 13