Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, neunter Teil

 

Das Abendessen beginnt um 18.30 Uhr. Auf den Tischen steht jeweils eine Platte mit Wurstaufschnitt und Käsescheiben, dazu Brot und Margarine. In großen metallenen Kannen dampft Tee. Wenn der Küchenchef, Herr Zwirlein, gut gelaunt ist, garniert er die Platten mit Gurken, Tomaten oder Kräutern – je nachdem, was ihm zur Verfügung steht. Er betont dann trotzdem, dass er „das Zeug“ – er meint Gurken, Tomaten und Kräuter – auch gut für den Mittagstisch verwenden könne, aber „heute“ wolle er „nicht so sein“. Ihm zur Seite stehen Katholische Schwestern der „Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Göttlichen Vorsehung“, welche die Haushaltung des Schülerheims führen. Dabei werden sie unterstützt von Dienstmädchen und Hausburschen, die in letzter Zeit allerdings oft wechselten, weil das Heim die geforderten Löhne nicht zahlen konnte. Fehlt der Hausbursche, müssen die Schwestern das Wichsen der Schuhe und die Gartenarbeit mit übernehmen. Eine Schwester behalf sich vor einiger Zeit damit, indem sie ihre leibliche Schwester ins Heim holte, die als Hilfe der Schwestern zur allgemeinen Zufriedenheit tätig war.

Am 1. Oktober 1921 wird Schwester Oberin Tolentine zum Schülerheim nach M. berufen, die zehneinhalb Jahre lang an der Spitze der Schwestern gestanden und namentlich unter den erschwerten Verhältnissen der Kriegsjahre und nach dem Krieg geholfen hat, unser Heim über Wasser zu halten. Rektor Mergler bedauerte es unlängst mir gegenüber, dass er die wertvollen Dienste Schwester Tolentines kaum durch eine greifbare Gegengabe vergelten könne. Er wolle um die Erlaubnis bitten, den „lächerlich geringen“ Verdienst der Schwestern von jährlich 200 Mark pro Schwester auf 1000 Mark anzuheben sowie den Verdienst der übrigen Hausangestellten den Zeitverhältnissen anzupassen.Ob er die Eingabe beim Bischöflichen Ordinariat M. gemacht und vielleicht schon eine Antwort erhalten hat, entzieht sich meiner Kenntnis.

Den Rektor habe ich seit dem Mittagessen nicht mehr gesehen. Normalerweise hätte ich ihn zum Nachmittagskaffee im Herrenzimmer angetroffen (wo auch Dr. Freitag nur kurz vorbeischaute und ich in der Hauptsache allein zwei Tassen Bohnenkaffee zu mir nahm), aber heute wurde er überraschend anstelle des Stadtpfarrers zu einer Sterbenden in die Innenstadt von B. gerufen; der Stadtpfarrer erlitt plötzlich einen Schwächeanfall, wie mir Schwester Oberin Tolentine später mitteilte. Natürlich bildet der Vorfall unseren ersten Gesprächsgegenstand. Eine Frau erst mittleren Alters sei es gewesen, ihre drei Kinder noch nicht ganz erwachsen, die zusammen mit ihrem Vater, dem Ehemann der Verstorbenen, untröstlich seien im wahrsten Sinne des Wortes. Die Sterbende habe sich in ihr Schicksal ergeben, wie er, Mergler, das Gefühl gehabt habe, und im Glauben echten Trost gefunden. Die Sterbesakramente seien ihr sehr wichtig gewesen. „Requiescat in pace!“, sagt der Rektor und fügt hinzu:

„Nach dem Abendessen besuche ich noch einmal die Hinterbliebenen; ich habe es versprochen.“

„Werden Sie auch die Beerdigung leiten?“, frage ich.

„Nach derzeitigem Stand nicht“, meint der Rektor vorsichtig, der Stadtpfarrer werde sich, wie er denke, bis übermorgen erholt haben; er sei überarbeitet und habe mit dem Schwächeanfall einen ersten Tribut entrichten müssen.

Vielleicht täte ihm eine Kur gut, meint Dr. Freitag.

„Das ist sehr gut möglich“, nickt der Rektor, „aber das entscheiden ein Arzt und unsere geistlichen Oberen.“

Zum Zeichen des Themawechsels wirft der Rektor den Kopf in den Nacken und sieht mich an:

„Haben Sie alle Sportgeräte erhalten und ins Heim transportieren können?“

„Bis auf die Hochsprungständer, die bestellt werden müssen, haben wir alles erhalten“, antworte ich, „Bälle, Wurfkugeln und Speere.“ Mit Hilfe des Sportgeschäftes, das den Hauptteil der Geräte noch am Nachmittag geliefert habe, sei auch alles im Heim beisammen.

„Wo liegen die Geräte?“

„Im Schuppen.“

„Nun gut, da sind sie sicher“, meint der Rektor, „der lässt sich ja abschließen.“

Einige Momente schweigen wir, essen unsre Brote und trinken unsren Tee. Unvermittelt sagt dann der Rektor:

„Der katholische Pfarrer von B. verfügt über ein Telefongerät. Ich habe zum ersten Mal in ein solches Gerät gesprochen; alles ganz deutlich zu hören, als stünde der Gesprächspartner direkt neben mir! Wäre ich kein Theologe, müsste ich sagen: ein Wunder, diese modernde Technik! Vielleicht können wir so etwas auch bekommen für unser Schülerheim.“

Ich merke innerlich auf: Der Rektor ist anscheinend etwas mitgenommen von seinem unerwarteten Einsatz bei der sterbenden Frau. Würde er sonst ein Thema wieder aufgreifen, das er soeben noch selbst beendet hat?

„Darf ich fragen, mit wem Sie gesprochen haben?“, erkundigt sich Dr. Freitag.

„Mit dem Generalvikar Jakob Philipp Becker, wegen des Schwächeanfalls des Amtsbruders. Ganz von sich aus teilte mir der Generalvikar noch mit, dass ein Bischöfliches Schreiben zur Frage des öffentlichen Mädchenturnens zu erwarten sei. Im Zuge der erstmaligen Teilnahme von Frauen an der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaft im August dieses Jahres wollen nun einige Übereifrige auch Mädchen in der Öffentlichkeit Sportkämpfe austragen lassen; ja, es gibt sogar Stimmen, die sich für den koedukativen Sportunterricht an Schulen aussprechen – können Sie sich das vorstellen?

Warum nicht?, denke ich. Auf eine Diskussion darüber habe ich aber keine Lust und verlege mich deshalb auf meine Taktik einer unbestimmten Geste: Ich nicke und stoße Luft aus der Nase; mein Gesprächspartner deutet diese Geste in aller Regel als Einverständnis mit seiner eigenen Position. Um den Gedanken an ein Nachfragen beim Rektor zu unterbinden, schiebe ich sogleich eine Frage hinterher:

„Hat der Generalvikar konkrete Punkte genannt, die das Bischöfliche Schreiben enthalten werden?“

„Ja“, antwortet der Rektor, „katholischen Mädchen soll das Turnen in der Öffentlichkeit verboten werden. Die Turnkleidung darf das Schamgefühl nicht verletzen, Turnen darf nur in gleichgeschlechtlichen Gruppen geschehen mit einer weiblichen Lehrkraft.“

„Dann wohl am besten nur in Hallen?“, frage ich.

Der Rektor erkennt nicht meine Ironie (konnte er auch eigentlich nicht) und antwortet:

„Nur in Hallen oder auf Plätzen, wo die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist.“

„Ja“, sage ich nur und wechsle einfach das Thema. „Heute Mittag habe ich noch mit Bernhard F. gesprochen wegen seiner Anfrage bezüglich privater Dosenwurst.“

„Ah“, meint der Rektor, „wie hat er reagiert?“

„Er hält sein Anliegen weiterhin für berechtigt wegen der Eintönigkeit des Frühstücks im Heim.“

Der Rektor sieht mich an. Ich halte seinem Blick stand und mache einen Vorschlag:

„Könnten wir es im Interesse der Schüler nicht doch erlauben, dass sie sich eine Frühstücks- und Nachmittagskaffee-Ergänzung von zu Hause mitbringen?“

Der Rektor sieht mich wieder an mit Verdruss in den Augen.

„Wo soll das Zeug denn gelagert werden?“

Ich ignoriere die Botschaft in dem Wort „Zeug“ und antworte:

„Ich denke an Metallschränke mit kleinen Fächern und geringer Tiefe, die könnten wir hier im Speisesaal aufstellen; vielleicht gleich im Eingangsbereich an der Wand.“

„Aha!“, sagt der Rektor; wohl um Zeit zu gewinnen. „Aber Dr. Freitags Argument, dass wir ein Gefälle bei den Schülern schaffen – die mit und ohne Dosenwurst – bleibt bestehen.“

„Wir könnten es darauf ankommen lassen. Vielleicht bringen alle Schüler Wurst von zu Hause mit. Wenn wir es uns finanziell nicht erlauben können, das Frühstück und den Nachmittagskaffee für die Schüler abwechslungsreicher zu gestalten, könnten wir die Hilfe durch die Eltern in Anspruch nehmen.“

Wieder sieht mich der Rektor an. Woher nehme ich plötzlich meine freie Rede?

Dann fragt er noch:

„Was ist mit der Kühlung?“

„Wir geben die Auflage, nur kleine Dosen mitzubringen, die rasch verzehrt sind. Im Übrigen sollten wir den Schülern die Eigenverantwortung zutrauen, dass sie die Wurst im Wandschrank nicht verkommen lassen, im eigenen Interesse wie dem der Gemeinschaft.“

Zu meinem Erstaunen nickt Mergler nur und sagt:

„Bitte! Ich setze den Punkt auf die Liste für den Elterntag.“

Immerhin!, denke ich. Jetzt kann ich dem Haussenior Bernhard F. „etwas mitteilen“.

Dr. Freitag hat uns nur zugehört. Nun will er auch einmal etwas sagen und wendet sich an den Rektor:

„Werden Sie in Ihrer Ansprache den Wäschesack erwähnen?“

„Ja, und die neuen Sportgeräte können heute ausprobiert werden. Wollen Sie Herrn Präfekt Framm auf den Sportplatz begleiten?“

Nach kurzer Pause bejaht Dr. Freitag die Frage des Rektors.

Der Rektor betätigt die Handglocke, erwähnt die beiden vorgenannten Punkte und schließt seine Abendansprache wie jedes Mal mit dem Satz: „Und morgen früh dann wieder zehn vor sieben aufstehen!“

(wird fortgesetzt)