Fortsetzung
Meine Wohnung besteht nur aus zwei kleinen Zimmern, wovon eines, meine „Schlafhöhle“, ohne Fenster ist, und dazu ist sie noch unvollständig: Es fehlt das Bad. Die Toilette muss ich mir teilen mit Dr. Freitag, dessen etwas größere Wohnung ein Toilettenräumchen aufweist. Als Dr. Freitag nach den Weihnachtsferien die Stelle im Heim von einem früheren Mitarbeiter übernehmen sollte, bot mir der Rektor an, dass ich die Wohnung tausche, um ein wenig mehr Platz zu haben. Aber ich lehnte ab aus Bequemlichkeit und weil ich es schätze, die Tür hinter mir zu schließen, ohne regelmäßig damit rechnen zu müssen, dass ein Toilettengeher bei mir erscheint. Die Duschgelegenheit nehme ich wahr, wenn die Schüler vormittags zur Schule gegangen sind. Im Kellergeschoss befinden sich die Duschkabinen.
Auf dem Weg zur Toilette, nur ein paar Schritte von meiner Wohnung, begegnet mir der Rektor mit freudigem Gesicht. Die Spende des hessischen Regierungspräsidenten für Sportartikel sei schon auf dem Konto, wenn ich heute nach dem Mittagessen Zeit hätte, könnte ich mit älteren Schülern die Bälle, Speere und Kugeln kaufen. Ach, es sei doch noch etwas gewesen, was er heute beim Frühstück erwähnt habe …
„Hochsprungständer“, helfe ich ihm.
„Richtig, Hochsprungständer! – Geht das in Ordnung?“
„Selbstverständlich, Herr Rektor!“
Ihr gefallener Mann hat sich freiwillig gemeldet, weil er „dem Deutschland“, das für ihn „das Liebste in der großen Welt“ bedeutete, „Dank abstatten“ wollte (Feldpostbrief vom 12. Oktober 1914). Was mich betraf, habe ich den Krieg gehasst. Ich will nicht ausschließen, dass Ihr gefallener Mann seine Einstellung geändert hätte mit den Jahren an der Front. Die Feldpostbriefe, die er noch schreiben konnte, bevor ihn in der Nacht vom 8. zum 9. Januar 1915 beim Sturmangriff vor Soissons eine Kugel oder ein Bajonett herausriss aus dem Leben, zeigen einen Verfasser, der nicht im Geringsten zweifelte an dem, was er tat und was um ihn herum vorging.
Die Hurra-Patrioten wimmelten auf den Fluren (den deutschen, französischen und so weiter) und sie waren – und sind es bis heute – humorlos, wenn es um ihr „heiliges Land“ geht. Wenn wir leben wollen, indem wir die anderen totschießen, wird es auch uns selbst treffen, werden wir selbst auch totgeschossen, sagte ich mir. Muss ich dieses Leben nun akzeptieren: andere totzuschießen oder selbst totgeschossen zu werden? Wie gerne ich entflohen wäre!
Mein Wert für den Staat bestand nur darin, dass es mich in Massen gab; jederzeit austauschbar. Mit der „Masse“ werden Kriege gewonnen: so lange anrennen, bis der „Feind“ die Waffen streckt. Wer verfügt über die größere Masse an Soldaten und Waffen? Nachdem die USA 1917 in den Krieg eingetreten war, bedeutete dies das entscheidende Übergewicht an den beiden „Massen“ Soldaten und Waffen zu Gunsten der Alliierten.
Mein „Verlust“ war nicht sicher, aber natürlich viel wahrscheinlicher als im Zivilleben; das hatte ich hinzunehmen. Wie es mir damit erging, spielte keine Rolle. In einer bestimmten „Rolle“ hatte ich dagegen zu bleiben: als Befehlsempfänger. Diese „Rolle“ zu verweigern, hätte meinen Tod besiegelt auf Befehl der Vorgesetzten. Alles andere, mein ganzes Sehnen und Trachten, sollte durch die Uniform, die ich trug, bedeutungslos geworden sein.
Ich greife vor und bin schon wieder im Krieg. Dabei sollte ich mich an den ersten Teil der Feldpostbriefe Ihres gefallenen Mannes halten, in denen er die Rekrutenzeit beschreibt (21. August bis 22. Oktober 1914).
„Es gab einen Tag, an dem uns Feldwebel und Unteroffiziere schuhriegelten wie kaum je. Man rackert sich und nimmt’s hin […] Den guten Willen haben wir alle. In den Leuten steckt viel Güte, doch man macht sie wild. Man entschuldigt und versetzt sich in die Vorgesetzten mehr, als umgekehrt vielleicht. Wie auch immer, es muss sein, also gibt’s eine Art, es zu ertragen“ (30. August).
Die Rekrutenausbildung war der Vorgeschmack auf den Krieg. Wir sanken zur Laus herab, wie es in einem kürzlich erschienen Roman heißt. Nur noch als vollkommen austauschbares Masseteilchen sollten wir uns begreifen, willenlos und würdelos. Deshalb die „Übungen“ bis zur Erschöpfung und zum Zusammenbruch. („Schweiß spart Blut“, erklärten uns die Ausbilder.) In den Matsch fallen lassen und wenn die Montur später nicht wieder sauber war, obwohl kaum Zeit und Möglichkeit dazu waren, setzte es Strafen. Erwachsene Männer, schlimmer bestraft als jeder Schuljunge … zur Laus herabsinken. Bereit gemacht werden, willig zu töten und sich töten zu lassen.
Ihr gefallener Mann kommentierte das alles anders: „Heikel darf man nicht sein“, schrieb er Ihnen am 21. August 1914. Eine hübsche Wendung! Hat er nicht gemerkt, worauf es hinauslief? Oh doch, im selben Brief fällt die Bemerkung „betrachte mich als zweckbenutzt“. Er hat begriffen, was mit ihm geschah, und bewertete es so:
„Es ist ein vollkommen anderes Leben, als wir bisher führten, gewiss. Aber doch kein schlechtes, kein unwertes und es darf kein schwaches werden“ (22. August). „Schwach“ wäre es gewesen, das „Es-muss-sein“ in Frage zu stellen. Ich stellte es in Frage, aber es half mir nichts. Desertionen endeten oft genug vor dem Erschießungskommando.