DER SPRUNG
Elisabeth Hellering war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie, durch einen unvorhersehbaren Umstand bewogen, ohne jegliches Zögern sprang.
Wer die junge Frau kannte, weiß, dass sie keineswegs ein Mensch war, dem es schwerfiel, Entscheidungen zu treffen. Sie hatte zielstrebig frühe Hürden, die durch mehrere Umzüge und dadurch bedingte Schulwechsel hoch waren, genommen. Auch ihr Abschluss im Hochschulexamen war ausgezeichnet. Nun war sie im zweiten Jahr berufstätig, und die Zukunft stand ihr, wie man zu sagen pflegt, offen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie eine Reihe von Freundschaften mit jungen Frauen und Männern. Sie liebte den geselligen Umgang, die gemeinsamen Unternehmungen und genoss ihr unbeschwertes Dasein. In der Frage einer dauerhaften Bindung an einen einzigen Mann sah sie keine Notwendigkeit, sich festzulegen. Es mangelte ihr ja nicht an Vertrautheit und emotionaler Wärme.
Vor allem zwei Männer standen ihr besonders nahe. Simon, der musisch Begabte, hatte Theologie studiert. Der ernste Vikar war ihr ein verlässlicher und liebenswerter Freund. Doch genauso gern mochte sie Felix, den Umtriebigen, Lebensfrohen, den es hinaus in die Welt zog. Vielleicht, dachte sie manchmal, wird sie irgendwann einem der beiden die Hand für den Lebensbund reichen, vielleicht aber würde es ein ganz anderer Mann sein.
Dann geschah etwas Außergewöhnliches, das Elisabeth Hellerings Leben schlagartig veränderte. Felix, der inzwischen nach zahlreichen Reisen eine aussichtsreiche Position in einem namhaften Unternehmen der chemischen Industrie innehatte, wurde Opfer eines schweren Zugunglücks. Einige Waggons eines abgestellten Güterzuges hatten sich aus der Verankerung gelöst, waren abwärts auf die Schienen gerollt und mit dem entgegenkommenden Personenzug frontal zusammengeprallt. Mehrere Insassen, darunter auch Felix, erlitten erhebliche Verletzungen.
Als Elisabeth Hellering davon erfuhr und zu ihm ans Krankenbett geeilt war, fühlte sie unversehens, wie schrecklich es für sie sein würde, wenn Felix nicht mehr lebte. Alle Überlegungen und jede Unsicherheit schwanden auf der Stelle. Sie spürte heftig, dass sie ihn auf keinen Fall verlieren wollte. Und so wagte sie den Sprung.
Wenn sie später, nach dem Tode ihres Mannes, von ihm erzählte, erwähnte sie zuweilen, wie tollkühn, bei Lichte besehen, ihre Entscheidung damals gewesen sei, und fügte gerne hinzu, wie wunderbar seine Lebensfreude und vor allem sein Humor sie durch das lange Eheleben getragen habe.