Geschichte als „ewiges Nun“ gedacht, Kitaro Nishida, Fortsetzung


Geschichte als „ewiges Nun“ gedacht, Kitaro Nishida, Fortsetzung

Gleichsam als Gegenentwurf zu dem uns vertrauten und geläufigen hierarchischen Denken — von Platon über Augustinus bis Jaspers — fiel mir der Ansatz von Kitaro Nishida ein:

 

„Wo Geschichte als in ewiger Vergangenheit ausgelöscht gedacht wird, entsteht so etwas wie die griechische Kultur, die alles zu Schatten der Ewigkeit macht. Wenn umgekehrt Geschichte als in ewige Zukunft vergehend gedacht wird, entsteht so etwas wie die christliche Kultur, die alles zum Weg nach der Ewigkeit macht. Wenn aber Geschichte als Begrenzung im ewigen Nun gedacht wird, wo Vergangenheit wie Zukunft in der Gegenwart ausgelöscht sind, dann kommt alles daher, ohne ein Woher seines Kommens und geht dahin, ohne ein Wohin seines Gehens, und was ist, ist ewig wie es ist.“

 

(vgl. Kitaro Nishida, Die Einheit der Gegensätze. Der metaphysische Hintergrund Goethes., in: Japanische Geisteswelt. Vom Mythos zur Gegenwart, ausgw. u. eingel. von O. Benl u. H. Hammitzsch, Baden-Baden 1956, S. 316-320)

 

Bei Nishida scheint aller „Raum“ im eindimensionalen „Hier“ und alle Zeit im eindimensionalen Nun als dem „Jetzt“ eingeschmolzen zu sein. Gleichsam „Raum“ und „Zeit“ in den Punkt gebracht. Raum-Punkt und Zeit-Punkt als Minimal-Formen höchster Konzentration, woraus sich mittels unseres Denkens sodann sowohl die Zeit-Linie (Vergangenheit — Gegenwart — Zukunft) als auch die Dreidimensionalität des Raumes (Länge — Breite — Höhe) entfalten lassen. Anders als bei Platon und Augustinus gibt es bei Nishida keine göttliche Stufung in die Höhe im Sinne einer Transzendenz, etwa als ein Aufstieg weg von der menschlichen „Horizontalen“, weg von der „Erde“ respektive „Welt“, weg von der Immanenz, quasi eine „Himmels-Leiter“ für die „Vertikale“, die einen Überstieg ins Göttliche ermöglichen würde. Auch gibt es keine göttliche Stufung in der Höhe als ein klar gegliederter, hierarchisch-organisierter „Himmel“, wie ihn etwa Pseudo Dionysius Areopagita beschrieben hat (vgl. Über die himmliche Hierarchie). Vielmehr scheinen in Nishidas eindimensionalen „ewigem Nun“ des Menschen „Raum“ und „Zeit“ zusammenzufallen. Was im antiken Polis-Gedanken (vgl. Phylen im Sinne von „Stämme“ sowie Phratien im Sinne von „Bruderschaften“; sodann die rechtliche Stufung in Politen, Metöken, Periöken und Sklaven) bzw. im römischen „Stände-Staat“ (Senatoren, Ritter, Bürger, Freigelassene, Einwohner der Provinzen, Sklaven) als gesellschaftlicher „Raum“ pyramidal gegliedert war und was Griechen und Römern „Epochen“, „Äonen“ und „Zeitalter“ waren, meist rückblickend betrachtend, als die „Vergangenheit von Geschlechtern“, von Herrscher-Dynastien, die den (Stadt-)Staat verwalteten, lenkten und regierten, eben als „Schatten der Ewigkeit“, das wird bei Nishida im „ewigen Nun“ eingeschmolzen und kondensiert.

 

Nishidas „ewiges Nun“ als Umkehr unserer (abendländisch-metaphysischen) Denk-Muster und Denk-Strukturen führt zu einer Radikalität des „Inne-Werdens“ und des „Inne-Seins“. Der von Menschen vormals durch Jahrtausende immer wieder neu erdachte und ausgestaltete „Himmel“: leer. Ja, alle von Menschen erdachten Begriffe innerhalb des menschlichen Denkens — gleichviel, ob nun „Menschen-Bilder“, „Gottes-Bilder“, „Seelen“-Begriffe oder „Seins“-Begriffe — werden nun als „Bilder“ und „Begriffe“ obsolet. Stattdessen: Alle Wirklichkeit in uns als das „Hier“ (= Ort) im „Jetzt“ (= Zeit). Zusammenfall von „Subjekt“ und „Objekt“ im „ewigen Nun“.

Anders als bei Platon oder Augustinus geht es Nishida nicht um ein Transzendieren der materiellen Immanenz — etwa der Mensch transzendiert in seinem Denken (und mittels seines Denkens…) sein eigenes Mensch-Sein oder aber die „Welt“ auf Gott hin —, sondern der Mensch transzendiert sich selbst in Richtung seiner (göttlichen) Wirklichkeit hin, also in Richtung seines „Selbst“ (vgl. „Brahman“ der indischen Religionen). Was in der abendländischen Philosophie und Theologie ein Transzendieren im „Außen“ war — d.h. der Mensch transzendiert die „Welt“ / Immanenz auf Gott / Transzendenz hin — das wird im „ewigen Nun“ Nishidas zu einem Transzendieren im „Inneren“ hin zum „Innersten“ — d.h. innerhalb meines Mensch-Seins hin zum „Ich“ (Wirklichkeit der Bewusstseins-Weisen) und durch dieses „Ich“ weiter zu jener göttlichen Wirklichkeit, die als unaufhellbarer Hintergrund unser „Selbst“ ist und dieses trägt. Oder, wie es ein buddhistisches „Bild“ fasst: Der Ozean (der Wirklichkeit) durchströmt meine Existenz, mein Wesen, dessen „Welle“ ich bin. Er ist mein Seins-Grund; ich bin seine konkrete Ausformung im „ewigen Nun“. Er ist mein Wirklichkeits-Ursprung, so wie ich als erkennendes Bewusst-Sein ein Teil von ihm bin. Der Ursprung meines Mensch-Seins, meines „Wesens“, meiner „Existenz“, bleibt jedoch für das erforschende Denken im „Dunkel“. Es gibt Wissen im Bereich des Menschen (z.B. die sog. „Humanwissenschaften“), es gibt die Selbstvergewisserung im Bereich der „Existenz“ (z.B. die sog. „Geisteswissenschaften“ und als ein Bereich hiervon die „Philosophie“ mit ihrer sog. „Existenzphilosophie“; innerhalb dieser Richtung sodann den Entwurf der sog. „Periechontologie“ mit ihrem „Philosophischen Glauben“ des Karl Jaspers) und es gibt — letztlich geglaubte — Gewissheit hinsichtlich unseres existentiellen Ursprungs. Die „Vorderseite“ meines individuellen Lebens als „Existenz“, worin ich denkend von „Horizont“ zu „Horizont“ mich selbst erhellend voranschreiten kann, ruht auf einem un-wissbaren „Goldgrund“, der es erst eigentlich Wert-voll macht und trägt; von dem es sich geschenkt weiß (vgl. Jaspers).

 

Wie seit Jahrtausenden kann der Mensch fortfahren, sich Philosophien und Religionen zu erfinden. Ob nun erdachte oder geoffenbarte. Gleichviel. Wir kommen auf diesen beiden Wegen nicht näher heran an jene eine Wirklichkeit, die wir philosophisch u.a. das „Eine“ („unum“), das „Gute“ („bonum“), das „Wahre“ („veritas“), das „Schöne“ („pulchrum“) nennen; und die wir theologisch mit dem Begriff „Gott“ oder „Transzendenz“ kenn-zeichnen. Denn das von uns Gesuchte liegt nicht jen-seits von dieser „Welt“ noch jen-seits von uns selbst. Es liegt unmittelbar dies-seits in uns.

Ich sage nicht: Es gibt keine Wahrheit (an sich) noch einen Gott (an sich). Ich sage nur: In den von Menschen gemachten (wissenschaftlichen) Begriffen der „Wahrheit“ werden wir die darin gesuchte Wirklichkeit nicht finden, noch werden wir in den von Menschen gemachten „Gottes“-Begriffen jemals jene Wirklichkeit finden, die schon Augustinus und Thomas von Aquin et al. vor uns suchten (… und fanden sie das von ihnen Gesuchte, schauten sie den „göttlichen Glanz“, so hatten sie ihr rational-geschultes Verstandes-Wissen bereits „hinter sich“ zurückgelassen…). Denn alle Begriffe menschlichen Denkens, Forschens und Wissens sind sowohl menschlicher Qualität als auch theoretischer Natur. Der Weg zum Gesuchten führt womöglich über des Menschen Fähigkeit zur Intuition oder einer weiteren Gabe, die wir trotz aller Beschreibungen unseres Mensch-Seins noch immer nicht beschrieben haben. Doch dann ist das persönlich Erfahrene und Erlebte, so sehr es auch für unsere individuelle Existenz Maß-gebend und absolut gültig sein mag (vgl. u.a. Giordano Bruno, 1548-1600, der für seine persönliche Glaubensauffassung als Ketzer auf dem Campo de‘ Fiori, Rom, verbrannt wurde), nicht länger allgemein gültig, noch kann diese persönliche Erfahrung oder Sichtweise als Wissenschaft respektive Wissen allgemeine Gültigkeit für alle Menschen bzw. gegen alle beanspruchen (vgl. z.B. die völlig willkürliche Auslegung des Koran durch Schergen des IS, sowohl bezüglich der Theologie des Islam selbst, als auch als jegliches Kulturerbe vernichtender Ikonoklasmus). Denn persönliche Erfahrungen und die daraus resultierenden Sicht-Weisen („Perspektiven“; „Welt-Anschauungen“, u.v.a.m.) sind stets an einen „Träger“ als „Subjekt“ gebunden — Wissenschaft und Wissen jedoch nicht. Wissenschaft durchleuchtet „Welt-Sein“ im „kalten Licht“ der Logik, sie ist gleichsam „Herz-los“. Weder sagt sie uns, was wir tun sollen, noch wer wir eigentlich, wesentlich sind. Und Wissen als ein fortschreitender, stets anwachsender und inzwischen unübersehbar gewordener „Bestand von Fakten“, als der Niederschlag, als das Kondensat, als die „Abs-traktion“ (lat. abs-traho) der angewandten Methoden, ist „Existenz-los“. Der Preis der Wissenschaft und des Wissens ist ihre „allgemeine, Orts- und Personen-unabhängige Gültigkeit“; der Preis des Menschen als „Subjekt“ (Nishida) wie als „Existenz“ (Karl Jaspers) ist sein „Herz“, seine mögliche „Nähe“, seine Fähigkeit zur Beziehung in Liebe und hieraus resultierend seine Grundkonstanten aus Glaube und Hoffnung sowie dem Vertrauen darauf, dass Gemeinschaft sowohl zum Nächsten (Mit-Mensch, Mit-Welt, „Schöpfung“) wie auch zum Fernsten (Gott) gelingen kann. Somit bleibt uns fragenden und suchenden Menschen doch ein schwacher, ein ferner Trost: So wie das Glimmen des Räucherstäbchens im Bogenschießstand des Awa Kenzo (1880-1930) einen kaum wahrnehmbaren Anhalts-Punkt in der Schwärze der Nacht hergab, so gibt es im philosophischen Denken genügend Erkenntnis-Wissen, in der Existenzphilosophie genügend „Existenzerhellung“ und im Glauben (in der lebendigen Mystik) genügend Gottes-Erfahrungen, auf das wir sagen können: es gibt Wahrheit; und: „dass Gott ist, ist genug.“ (vgl. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, Piper, 301992, S. 32)

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