DER LETZTE BRIEF


DER LETZTE BRIEF

 

Als Lina ihn zum ersten Mal verließ, kannten sie sich erst kurze Zeit. Die Monate, die sie mit Thorwald erlebt hatte, erschienen ihr trotz mancher Bedenken wegen des erheblichen Altersunterschiedes wie ein schöner Traum, aus dem sie keineswegs erwachen wollte. Und doch musste sie ihm, auch wenn es ihrem Naturell zuwiderlief, zumindest äußerlich den Rücken kehren. So rasch er durch seine liebreiche Art ihr Vertrauen gewonnen hatte, so unnahbar war er gewesen, als sie versucht hatte, mit ihm über seinen Brief zu sprechen, der, ohne ihr einen einsichtigen Grund zu bieten, das Verlangen ausdrückte, allein zu sein.

Sie hatte erst kurz zuvor auf seinen Wunsch hin einen größeren Teil ihrer beweglichen Habe zu ihm gebracht, war, statt in der von ihr geschätzten rheinischen Kulturmetropole zu weilen, wo sie obendrein ein Gartengrundstück gepachtet hatte, die meiste Zeit über in dem wenig reizvollen Mittelgebirgsort gewesen, in dem er wohnte.

Am Tag nach dem missglückten Gespräch zog sie sich widerstrebend mitsamt ihren Sachen in die Kurstadt zurück. Da ahnte sie noch nicht, dass ihren Gefühlen ein Wechselbad bevorstand. Denn es dauerte nur ein paar Tage, da bat Thorwald sie inständig, zu ihm zu kommen. Ärgerlich über sich selbst und dennoch mit freudigem Herzen entsprach sie seiner Bitte.

Wochen der Harmonie und des Glücks folgten, die aber bald durch erneute Distanz seinerseits abrupt endeten. Wiederum hatte er sich brieflich geäußert, wieder vermochte sie seinen Worten und dem folgenden Streit keine einleuchtende Erklärung für den plötzlichen Stimmungsumschwung zu entnehmen.

Nicht einmal eine Woche war vergangen, als sie wieder zueinander fanden. Solch scharfe Wendungen nahmen die beiden Jahre ihrer Beziehung noch drei weitere Male. Lina, mittlerweile nervlich zerrüttet, schwor sich, niemals mehr zu ihm zurückzugehen, sollte er sie noch ein einziges Mal mit einem derartigen Wandel konfrontieren.

Unterdessen verliefen die Tage ruhig, und die Vertrautheit und Nähe zwischen ihnen nährten Linas Hoffnung auf ein gemeinsames Leben.

Am Beginn des folgenden Jahres gestalteten sich die beruflichen Dinge für Thorwald sehr schwierig. Er musste häufig Dienstreisen unternehmen, und wenn er mit Lina zusammen war, wirkte er müde und abgespannt; auch Züge von Missgelauntheit bemerkte sie an ihm. Sie wollte mit ihm reden, unternahm mehrere Anläufe, die aber, da sie ihn nicht verärgern wollte, zu keinem Erfolg führten. Nachts lag sie lange wach und kämpfte mit ihren Ängsten.

Dann kam der Tag, an dem sie – er war früh am Morgen zu einer mehrtägigen Fahrt aufgebrochen – den sechsten Brief fand. Sie wusste genau, was darin stand, und konnte sich den Schmerz, ihn zu lesen, ersparen. Weinend und wütend raffte sie eilends ihre Habseligkeiten zusammen, entschlossen, dieser Kehre seiner Empfindungen keine weitere folgen zu lassen.

Sie rief, da sie ihre eigene Wohnung inzwischen aufgegeben hatte, ihre Eltern in Schleswig-Holstein an, meldete sich an ihrer Arbeitsstelle krank und verließ mit der Notiz, dass sie ihn vorgewarnt habe und nun nicht mehr wiederkehren werde, den Ort, an dem sie, entgegen anfänglicher Zweifel, heimisch geworden war.

Da sie ihre Telefonnummern geändert hatte, konnte Thorwald sie nach seiner Rückkehr nicht erreichen. Aber er versuchte es wohl gar nicht; denn bei Linas Eltern erfolgte weder ein Anruf von ihm, noch erhielt sie dort einen Brief. Sie ertappte sich dabei, einen Hauch von Enttäuschung zu empfinden, war aber im Grunde erleichtert: Er hatte verstanden, und sie konnte trotz anhaltender Traurigkeit eines Tages neu beginnen und die schöne und zehrende Liebe hinter sich lassen.

Einstweilen freilich war es noch nicht soweit. Sie fühlte sich zermürbt und unfähig, auch die inneren Bande zu kappen. Aber, daran zweifelte sie nicht, sie würde es schaffen.

Die Zeit verstrich, Jahre gingen ins Land. Ihr lange zurückliegender Entschluss trug Früchte: Sie gewann ihre frühere Lebensfreude zurück, war mit einem neuen, seelisch stabilen Partner zusammen und dachte nur noch selten an die überwundene Phase ihres Lebens. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie den ungelesenen Brief Thorwalds abgelegt hatte, und auch nicht, ob sie ihn überhaupt noch besaß. Erst als sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern in ein größeres Haus zog, fand sie zufällig den Umschlag. Zunächst wollte sie ihn fortwerfen, aber dann spürte sie doch eine gewisse Neugierde und öffnete ihn.

„Meine geliebte Lina“, las sie, „ich weiß, dass ich im Moment zu stark eingespannt bin, um mich dir, wie du es verdient hättest, zu widmen. Es sind nicht nur die gewaltigen Umstellungen im Betrieb und die damit verbundenen zahlreichen dienstlichen Reisen, die mich ganz fordern. Es ist auch der Plan, von dem ich dir einige Male erzählt habe, der Zeit und Kraft kostet – du weißt schon: die Sache mit dem zum Verkauf stehenden Landhaus im Odenwald. Du hast zwar immer beteuert, es sei dir ganz gleich, wo und wie wir wohnten; die Hauptsache sei, dass wir miteinander glücklich seien. Aber das Strahlen deiner Augen, wenn wir davon sprachen, ist mir gleichwohl nicht entgangen. Du kennst mich gut: Ich mag Überraschungen. Und so habe ich mit dem Bankhaus Verhandlungen geführt und die Sache zu einem guten Abschluss gebracht. In wenigen Monaten können wir unser Landhaus beziehen, abends auf der hölzernen Gartenbank sitzen und in das malerische Tal hinabschauen. Ich bin schon ganz gespannt, was du sagen wirst, wenn ich am Ende der Woche zurück bin. Dein Thorwald.“

Sie hatte noch nicht den Schluss des Briefes erreicht, als ihr Tränen über die Wangen liefen. Ihre Hände begannen zu zittern. „Zu spät, zu spät!“ schoss es ihr durch den Kopf. Sie führte das Papier an ihre Lippen, bevor sie es sorgsam verwahrte.

Nachdem sie mit ihrer Familie umgezogen war, fasste sie den Entschluss, in den Odenwald zu fahren, um dem vor bald neun Jahren zerronnenen Traum nahe zu sein. Als sich eine günstige Gelegenheit ergab, packte sie diese beim Schopf.

Sie erblickte das alleinstehende Haus schon aus der Ferne. Es war jetzt keine Zeit, die Gefühle, die sich in ihr überschlugen, zu verstehen. Langsam näherte sie sich, ging die Anhöhe hinauf, und da an der Eingangsseite eine Buchenhecke angepflanzt war, versuchte sie, ohne bemerkt zu werden, an das Türschild zu gelangen. Sie wusste natürlich, dass Thorwald hier nicht wohnen konnte. Welchen Sinn hätte es gehabt, das für ihr Zusammenleben gedachte Haus allein zu beziehen? Das hätte er niemals getan. Und überdies war ein großer Garten ihre, nicht seine Passion.

Wie durchzuckte es sie, als sie auf dem Schiefertäfelchen nicht nur seinen, sondern auch ihren eigenen Namen las! Wie war das möglich? Das konnte doch nicht wahr sein! Rasch entfernte sie sich, wild pochte ihr Herz.

Dann kam sie erneut näher, ging um das Haus herum und sah einen Mann, der gebückt inmitten von Blumenrabatten stand. Es war tatsächlich Thorwald. „Neun Jahre!“ dachte sie. Als sie seinen Namen rief, richtete er sich nur langsam auf – es machte ihm anscheinend Mühe –, und es dauerte geraume Zeit, bis sich die Tür auftat. Er schaute sie lange an, wirkte benommen, als erwachte er aus einem tiefen Schlaf. Nach einer Weile, die ihr endlos erschien, glaubte sie, ein Lächeln über sein Gesicht huschen zu sehen. Mit einer Geste bat er sie herein, ging mit ihr, noch immer wortlos, den Weg am Haus entlang bis zu der Bank aus Holz. Dort setzte er sich.

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