Bericht des Amtmanns a.D. Teil 1


Bericht des Amtmanns a.D.

 

Bestimmte Fälle sind mir noch gut im Gedächtnis. Von dreien will ich Ihnen erzählen, sie stammen aus der Zeit, als ich ein blutjunger Praktikant war. Heute bin ich das Gegenteil von blutjung, nämlich uralt. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Fälle noch einmal jemand interessieren würden; sie sind mittlerweile schon archiviert, so dass ich Ihnen über meine gute Erinnerung hinaus ziemlich genaue Auskunft geben kann.

An Gustav S. erinnere ich mich gern, weil er die Kurve gekriegt und sein Leben gemeistert hat. Er war der Sohn des Bäckermeisters Gustav S., Vater und Sohn trugen denselben Namen. Seine Mutter war bereits vor Jahren verstorben, als wir es mit dem kleinen Gustav zu tun bekamen. Der Vater, übrigens ein Kriegsbeschädigter, der in der … warten Sie, lassen Sie mich nachsehen! (blättert in seinen Unterlagen) Ja, in der Hochzeitsstraße 13 in Au. eine kleine Bäckerei besaß, heiratete zum zweiten Mal – eine gewisse Anna Maria, geb. Z. Wegen ihr kam Gustav in die Fürsorgeerziehung, aber auch wegen des Vaters, wie ich Ihnen gleich darlegen werde. Anlässlich einer Musterung der Kinder für die Schulspeisung wurde Gustav vom Kreisarzt  eingehend untersucht. Dabei stellte sich vollends heraus, was Lehrern und Mitschülern schon aufgefallen war: dass Gustav körperlich zurückgeblieben war, blass und schmächtig aussah. Nach Ansicht des Kreisarztes wog er zehn bis fünfzehn Pfund weniger als seine Altersgenossen. Wie konnte das sein? Was steckte dahinter? In seiner geistigen Entwicklung war Gustav seinen Alterskameraden dagegen nicht nur gleich, sondern er übertraf sie alle und wurde als „bester Schüler“ bezeichnet. Seine Klassenlehrerin Fräulein Zinnober, ein Name, den ich nicht vergessen habe, und Rektor Blum, mit dem ich später noch viel zu tun hatte, als ich nach dem Praktikum ziemlich rasch die Beamtenlaufbahn einschlug und schließlich – nach dem Krieg – Amtmann wurde, sprachen sich sehr lobend über ihn aus, seine Begabung und sein Fleiß gingen Hand in Hand; eine Formulierung – ich glaube, von Fräulein Zinnober – die mir ebenfalls im Gedächtnis geblieben ist. Auf Nachfragen erfuhren wir, die Erwachsenen, was den Klassenkameraden Gustavs schon bekannt war: Dass er es zu Hause nicht gut hatte, dass er nicht nur nicht genügend zu essen bekam, sondern dass er von Frau S. häufig streng gezüchtigt und misshandelt wurde. Er hatte in der Schule schon um Brot gebettelt und bekam von seinen Mitschülern immer wieder etwas zugesteckt. Eines Tages kam Frau S. in die Schulpause und sah Gustav mit einem Brötchen in der Hand. Auf Befragen sagte er ihr, er habe es von seinen Mitschülern bekommen. Frau S. fühlte sich bloßgestellt, weil die Klassenkameraden und vielleicht auch schon der Lehrkörper wussten, dass Gustav nicht genug zu essen hatte; sie drohte dem Jungen mit den Worten (liest von der Unterlage ab): „Komm heute nur nach Hause, da gibt es Schläge, wie du noch keine bekommen hast!“ Wie wir später erfuhren, war das Kind im Nachmittagsunterricht völlig verstört und für den Unterricht unbrauchbar. Können Sie sich vorstellen, was in dem Jungen vorgegangen sein muss, der die angesagte Misshandlung vor Augen hatte? Minute auf Minute verrann, und er hatte nach Unterrichtsschluss keine andere Chance, als nach Hause zu gehen und sich dem Sadismus der Schlägerin auszuliefern. Ich stelle mir heute viele Fragen, eine davon lautet, warum der elfjährige Gustav S. trotz der angekündigten Schläge, wie er noch keine bekommen haben sollte, trotzdem nach Hause ging, anstatt wegzulaufen. Gibt es eine Antwort auf diese Frage? Offensichtlich sah er keinen Ausweg, der ihn vor der prügelnden Frau bewahrt hätte. Aber warum sah er keinen Ausweg? Wie hätte unsere Welt beschaffen sein müssen, damit Gustav den Ausweg gesehen hätte? Können Sie einem uralten Mann diese Fragen beantworten? Nach einem Schulspaziergang von dreieinhalb Stunden – die Kinder kamen um fünf Uhr nachmittags nach Hause – erzählten alle, wie sie hungrig gewesen seien und wie viel sie gegessen hätten. Nur Gustav gab auf Befragen an, bei ihnen würde nachmittags nichts gegessen. Einmal hatte Gustav zu Hause Geld entwendet und sich dafür bei einem Bäcker Brötchen gekauft. Stellen Sie sich vor, sein Vater besaß eine kleine Bäckerei, und Gustav musste sich mit entwendetem Geld bei einer fremden Bäckerei heimlich Brötchen kaufen! Der Diebstahl oder besser gesagt: Notdiebstahl kam ans Licht, Frau S. schlug ihn nicht nur deswegen, sondern begann den Jungen in der erdenklichsten Weise überall schlecht zu machen. Sie bezeichnete ihn als Dieb, vor dem sich andere Kinder in Acht nehmen sollten, damit er sie nicht verderbe.

Fortsetzung folgt

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