- Oktober 2017: Impressionen aus Venedig – © Brigitta Dewald-Koch
Venedig ist hoffnungslos überlaufen und das schauspielerische Können der Kellner wieder einmal unübertroffen. Es ist amüsant zu beobachten, mit welch kleinen Tricks sie in Touristen das Gefühl verstärken, an einem einzigartigen Ort zu sein; sie lächeln, ohne wirklich zu lächeln, sie schaffen es, Deutsche, Franzosen, Amerikaner oder Asiaten etc. mit einen paar Takten O sole mio…, einem vordergründigen Kompliment, einer kunstvollen Drehung mit vollem Tablett, einer angedeuteten Verbeugung u. ä. in eine derart rauschhafte Begeisterung zu versetzen, dass die Bestellung üppiger ausfällt als ursprünglich geplant, der Aperol-Spritz, egal wie teuer er auch ist, als eine exquisite Teilhabe am venezianischen Luxus angesehen und danach wohlwollend übersehen wird, was einem an Venedig nicht so gut gefällt (das viele Laufen über Brücken, das Preis-Leistungsverhältnis der Hotels, Restaurants, die überfüllten Wasserbusse etc.).
Die Zattere gleichen an diesem Tag einem Wallfahrtsort, nur, dass nicht erkennbar ist, wohin gewandert wird, sieht man einmal von den Terrassen am Ufer ab. Und wer sich einen Terrassenplatz nicht leisten kann, setzt sich, wenn ihm die Beine lahm geworden sind, auf Bänke aus istrischem Stein, die entlang der Promenade stehen, oder auf Steinstufen, die es auch hier zu Genüge gibt. Dass sich ein riesiges Kreuzfahrtschiff im Zeitlupentempo durch den Canale della Giudecca schiebt, sehen nur die Touristen als Attraktion, die Venezianer hingegen sehen darin ein Ärgernis, gegen das sie schon lange ankämpfen. Es heißt, in vier Jahren sei es soweit, dass nur noch kleinere Kreuzfahrschiffe die Fahrrinne passieren dürfen. Man wird sehen, denn bisher gibt es für die großen, bis zu zwölfstöckigen Schiffe, noch keine alternative Fahrrinne. Sie gar nicht mehr fahren zu lassen, heißt es, bedeute einen erheblichen Verlust an Arbeitsplätzen und Einnahmen für die Stadt.
Ich sitze auf einer Terrasse, die nahe am Wasser gelegen ist, trinke einen Espresso und denke daran, wie still Venedig doch im Dezember oder frühen Frühjahr ist. Ich bin zur Biennale hergekommen, und man kann schließlich nicht alles haben.
Aber es gibt sie auch im Sommer oder Herbst, die stillen Ecken. Man muss sich nur fernab der Touristenrouten bewegen, beispielsweise ins venezianische Ghetto gehen, sich durch die Zona Zaccharia oder das Castello treiben lassen, und immer dann, wenn man einem Touristenstrom begegnet, in die nächste verlassene Gasse abbiegen.
Ich beobachte zwei Väter mit ihren Kindern. Der eine sitzt mit seiner Tochter, ich schätze sie auf etwa zehn Jahre, zwei Tische weiter als ich. Ihn schätze ich auf Ende vierzig, er schreibt viel (in roter Farbe) in ein Büchlein, hin und wieder fotografiert er, seine Tochter löffelt derweil ihr Eis. Ein Espresso wird für den Vater gebracht, später bestellt er sich einen Branntwein. Die Tochter sitzt die ganze Zeit über geduldig neben dem Vater, womit allein sie schon meinen Respekt verdient hat, isst ihr Eis, spielt mit dem Löffel, sieht sich um. Doch irgendwann steht sie auf, nimmt seine Kamera und geht ihrer Wege, lächelnd, und in diesem Lächeln liegt viel Entschlossenheit. Ihr Vater sieht ihr nach, auf seinem Gesicht ebenfalls ein Lächeln, aus dem sein ganzer Stolz auf diese Tochter spricht. Dann nimmt er einen Schluck Branntwein und schreibt weiter.
Der zweite Vater sitzt mit Frau und Kind am Tisch direkt vor mir. Das Kind, ein Junge, ist etwa anderthalb Jahre alt und sitzt auf einem eigenen Stuhl zwischen den Eltern, wenn die Mutter es nicht gerade umherträgt. Der Vater ist mit seinem Handy beschäftigt, für einen Italiener ist das nichts Ungewöhnliches. Ab und an lächelte er seinem Sohn zu oder streicht ihm beruhigend über den Kopf. Die Mutter hingegen herzt und küsst das Kind nahezu ununterbrochen, auch das nichts Ungewöhnliches für eine italienische Mama. Dazwischen fotografiert sie ihr Kind voller Begeisterung. Als die Familie später geht, trägt der Vater das Kind in einem Tragetuch, und es sieht aus, als seien alle Beteiligten sehr zufrieden mit dieser Entscheidung.
Ich will meine Beobachtung nicht weiter kommentieren. Nur so viel, ich fand es interessant, beide Szenen zu beobachten, sagten sie mir doch einiges über Väter- und Mütterverhalten, über Vertrauen in Kinder und umgekehrt, über Selbstständigkeit und Rollenverhalten.
Nahe der Salute fand ich am gleichen Tag an einer Wand ein eilig hingemaltes Gesicht und nachfolgendes Gedicht. Ich hoffe, der Verfasser oder die Verfasserin (darunter stand lediglich die Nummer A. 31 und Movimento per l’Emancipazione della Poesia – www.movimentoemancipazionepoesia.tk) nimmt es mir nicht übel, dass ich es hier wiedergebe. Mir hat es gefallen.
Abbiamo speso parole
Abbiamo speso parole
abracciato lunghi silenzi
svenduto singhiozzi
all‘altare del pianto.
È macuro, tenere amore
Il frutto amare del