Von Engeln und Menschen
06.08.2017
Zwar haben alle Engel Gottes
auf einer Nadelspitze Platz —
aber ein einziger Mensch
hätte weder in der „Welt“ genügend Raum
noch auf der ganzen Erde genügend Platz.
Kommentar:
Von Engeln, Teil 1
Seit frühester Zeit existiert die Glaubens-Vorstellung, dass es „vermittelnde Wesen“ zwischen dem Bezirk der Menschen und dem Bereich der Götter / Göttinnen gibt. Ihre Ausgestaltung wie auch die Begrifflichkeiten sind kulturell verschieden. Gemeinsam ist ihnen — durch alles, was den Menschen Religion geworden ist — dass sie „Botschaften“ aus dem numinosen Bereich in den Wahrnehmungs-Bereich des Menschen bringen. Ein „Botschafter“ oder „Abgesandter“ heißt auf Altgriechisch bzw. im koinè „ángelos“ (geschrieben: „aggelos“). Über die Tradition des „Neuen Testamentes“ (vgl. z.B. Pseudo-Dionysius Areopagita, um 500 n. Chr., seine grundlegende Schrift zur Angelologie, „Die Himmliche Hierarchie“) sowie über div. Konzilien und Synoden (z.B. Synode von Braga, 561 n. Chr.) wurden aus den Sendboten etwa eines Königs oder Kaisers nach und nach christliche Glaubens-Boten als „Engel“. Diese können ihrer Art nach sowohl „gut“ (z.B. die drei Erzengel: Michael, Gabriel, Raphael, [Uriel]) als auch „böse“ (z.B. Luzifer samt seines „Dämonenheeres“) sein. Allen Engeln gemeinsam ist jedoch — nach christlicher Glaubenslehre — dass sie von Gott als „Geist-Wesen“ geschaffen worden sind. Daraus folgt zum einen, dass sie unsterblich sind. Zum anderen, dass sie keinerlei Extension besitzen, selbst dann nicht, wenn sie bisweilen Form und Gestalt annehmen können, wenn sie den Menschen Botschaften überbringen (vgl. Magnificat; Erzengel Gabriel; Osterbotschaft des dritten Tages: der Engel im leeren Grab). Denn anders als ein biologischer Körper besitzt der Geist keine Ausdehnung im Sinne einer materiellen Dimension. Da sie Geist-Wesen und spirituelle Wirklichkeiten sind, benötigen sie folglich keinerlei Raum und finden „auf einer Nadelspitze Platz“.
Im Gegensatz hierzu benötigen jedoch alle Lebe-Wesen sowohl Raum als auch Platz. Zwar sind auch sie einerseits aus Geist geschaffen (vgl. „Genesis“, NT; sodann bzgl. des Menschen die christlichen wie auch philosophischen „Seelen-Lehren“), zusätzlich
bestehen ihre „Körper“ jedoch aus Materie und Form, die somit eine räumliche Ausdehnung haben. Das Zusammengesetzte (materieller Körper in der Form), das Werdende, das Sich-Verändernde und niemals Sich-Gleichbleibende ist jedoch das Vergängliche, das Sterbliche (vgl. Platon „Phaidon“). Die alten „Scholastiker“ wie etwa Johannes ScottusEriugena, Johannes Duns Scotus, Meister Eckhart, etc.pp. wussten noch um diese qualitative Differenz: Engel gleich immaterielle und damit ausdehnungslose, nicht-räumliche Geist-Wesen; Menschen und alle anderen Geschöpfe / Lebens-Wesen gleich Materie plus Form, damit sowohl räumlich als auch vergänglich. Sie konnten daher wohl eher gelassen mit der Frage nach den „Engeln auf der Nadelspitze“ umgehen, auch wenn ihnen von Seiten der Humanisten gerne ein erbitterter Streit hierüber „in den Mund gelegt“ wurde.
Ganz anders als in jenen fernen Tagen der Scholastik bzw. des Humanismus gerät in einer profanisierten Zeit der „Engel“ zu einem folkloristischen „Kult-Objekt“, das, seiner inneren, heiligen Wirklichkeit beraubt, zum Ramsch-Objekt eines spiritistisch-esoterischen Marktes degradiert wird. Zwar gibt es auch heute noch ernsthafte Beschreibungen dieser Engel-Wirklichkeiten, etwa bei dem Benediktiner-Pater Anselm Grün. Der eigentliche Markt jedoch bewegt sich zwischen „Engel“-Sammeltassen, „Engel“-Schlüsselanhängern sowie personifizierten Glücksbringern und Talismanen („Dein Schutzengel für die Mathearbeit“, etc.pp.) aller Art. Sie sind zur Zeit echte Verkaufsschlager. Und das nicht nur zur Winterszeit, sprich Adventszeit, sondern ganzjährig. Denn immer mehr Menschen der heutigen Cyborg-Zeit — einer von Menschen und vom Menschen gemachten Zeit — benötigen ganz offensichtlich solcherlei Maskottchen, Glücksbringer (Talismane) sowie Böses Abwehrendes / Bannendes (Amulett), um noch durch den eigenen Alltag zu kommen. Die Umwertung der einstmals religiösen Werte in technische Artefakte eines profanen Aberglaubens.
Exkurs Lebens-Perspektiven:
Aber retour zu den älteren, den ursprünglichen Vorstellungen von Engeln. Interessant wäre m.E. im Zusammenhang mit der Geisthaftigkeit aller Lebe-Wesen — sei es nun im Sinne der jüdisch-christlichen Schöpfung („Genesis“), sei es etwa im Sinne der schamanischen Vorstellungs-Welt der „First Nations“ — was hieraus für die „Bewahrung der Schöpfung“ oder profan, für den „Erhalt der Erde“ folgt. Selbst dann, wenn wir anders als die „Kreationisten“ das Bibel-Wort der Genesis nicht wortwörtlich im Sinne einer modernen „Nachricht“ / „Information“ oder im Sinne einer naturwissenschaftlichen Tatsachen-Beschreibung nehmen, sondern als das, was es
ist: Beschreibung eines Glaubens-Inhaltes. So folgt doch hieraus, dass alle Lebe-Wesen von ein und demselben Göttlichen-Geist geschaffen worden sind und damit — hierarchisch gedacht — auf einer „Ebene“ angesiedelt sind, auf der sie zueinander in Beziehung stehen. Denn alles, was lebt, trägt diesen „göttlichen Atem“ in sich. Dieser ist der Wirkungs-Grund, das Lebens-Prinzip, warum etwas nicht nur ins materielle Dasein, sondern ins Leben herein-tritt. Leben, ganz gleich in welcher Form es sich dem Menschen darstellt und seinen Sinnen zeigt, hat somit per se ein Recht darauf, vom Menschen geachtet und respektiert zu werden, woraus folgen würde, dass der Mensch andere Lebens-Formen schützen, hegen & pflegen, und das Leben als Ganzes bewahren sollte. Mit den Worten Albert Schweitzers: „Ehrfurcht vor dem Leben“. Obschon nur wenige Jahrzehnte von uns entfernt, so liegen doch ethische Ab-Gründe zwischen seiner Weltsicht und damit auch „Sicht auf das Leben“ sowie unserer heutigen Realität der „totalen technischen Machbarkeit“. Denn ob nun Franz von Assisi oder Albert Schweitzer: Ihnen galt das Leben in jeglicher Form als heilig. Vom kleinsten Erkennbaren bis zum Größten; von der „Eintagsfliege“ bis zum tausendjährigen Mammutbaum. Denn nicht Maß noch Dauer eines Lebe-Wesens waren ihnen für dessen Wertigkeit entsscheidend, sondern das Verbindende eines göttlichen Ursprungs.
Ganz anders der heute geltende naturwissenschaftlich-neomerkantilistische Ansatz. Heute bestimmt sich der Wert eines Menschen darüber, ob er für die globalisierte Wirtschaft der transnationalen Konzerne relevant ist. Ist er dies, so wird er ausgebeutet (vgl. Struktur von Arbeitsverträgen und Arbeitsbedingungen bei global agierenden Konzernen; oder bei Global Playern der Luftfahrt-Industrie; oder bei lokal operierenden Billig-Airlines; etc.pp.). Des Menschen Ausbeutung besteht darin, dass er nicht mehr als Mensch in einem Arbeits-Prozess wahrgenommen wird — auch schon nicht mehr als eine beliebig austauschbare „Human Resources“ —, sondern als Kostenfaktor in einem workflow („Personalkosten“ gelten immer als die höchsten Kosten eines Konzerns). Und er ist nur deshalb noch an dieser Stelle des workflows anzutreffen, weil es noch keine Cloud-Solution oder Androiden gibt, die ihn bis dato ersetzen könnten (vgl. die Horror-Visionen einer „Industrie 4.0“ als die Wirtschafts-„Matrix“ der Zukunft). Seinen Personalkosten steht jedoch ein gewisser Gewinn aus seiner Produktivität gegenüber. Sein persönlicher „return“. Ist er für das Unternehmen jedoch nicht oder nicht mehr Gewinn-bringend — sei es, dass er krank oder alt geworden ist —, so wird er zum reinen Kostenfaktor degradiert (so z.B. bei „Ryanair“ [vgl. die Arbeitsverträge der Flugkapitäne] oder aber im Gesundheitswesen, Pflegenotstand in der Altenpflege, etc.pp.). Umwertung des menschlichen Lebens als Teil einer „Ehrfurcht vor dem
Leben“ in eine reine Kostenstruktur des globalisierten Marktes. Aus dem „Sozialdarwinismus“ ist inzwischen ein „deregulierter Markt-Darwinismus“ geworden. Was einstmals als überholt und durch den kulturell voranschreitenden Menschen als überwunden (er-)schien, dass nämlich der Mensch dem Menschen ein Wolf sei (vgl. Plautus, Hobbes), das kehrt nun als modernes Markt-Gesetz in diesen Tagen zu uns zurück. Nicht der Mensch sondern der von ihm geschaffene Markt als „das Maß aller Dinge“ (vgl. homo mensura-Satz des Protagoras), der technischen, dass sie als verkäufliche Waren zu Handen sind; der lebendigen, dass sie Markt-kompatibel gemacht worden sind.
Jedoch, was für den Menschen gilt, das gilt erst recht für Nahrungsmittel und Tiere: Ihr Markt-Wert wird mittels naturwissenschaftlicher Methoden (vgl. Gen-Technik, Klonen) optimiert und ihr Verkaufs-Wert innerhalb der „Wertschöpfungs-Ketten“ maximiert. Wie geht das? Bei den Grundnahrungsmitteln wie etwa Weizen, Reis, (Afrika, Asien), Mais (Lateinamerika) sowie bei den energiereichen Futtermitteln (Soja) werden durch gentechnische Manipulation die Erträge pro Hektar in die Höhe getrieben. Bei Nutztieren werden sowohl die Vertilitäts-Quoten erhöht als auch die Mastzeiten dramatisch verkürzt (Mastzeiten bei Geflügel:Masthühner ca. 36 Tage, Puten ca. 100 Tage; bei Schweinen ca. 5 Monate; bei Rinder ca. 10 Monate). Sie werden nicht mehr gezeugt und gezüchtet, sondern produziert — gerade so, wie man Kühlschränke oder etwa Mikroprozessoren herstellt. Und da die Frachtkosten weltweit fallen, ist es auch völlig gleichgültig, in welchem Teil der Welt Schlachttiere produziert werden. In Kürze landen sie bei uns als „T-Bone-Steak“ (aus den USA, Brasilien, China), als fertiges „Schnitzel“ (von China, USA, Brasilien), „Putenbrustfilet“, „Chicken-Wings“ (USA, China, Brasilien), „Viktoriabarsch“ (Kenia, Ostafrika), oder „Königsgarnelen“ / „Gambas“, „Shrimps“ (China, Thailand, Vietnam), u.v.a.m. auf dem Teller. Weltweit vernetztes Air-Cargo mit seinen „Kühlketten“ sorgt dafür. Was wir da auf unseren Tellern und Gabeln dann haben und zu uns nehmen — nun, diesen Cocktail aus Chemikalien, Masthormonen und Gentechnik-Rückständen möchten wir wirklich nicht wissen. Hauptsache billiger als billig und „XXL“.
Der Wert des Weizens ergibt sich aus seinem aktuellen Tageskurs an der Chicagoer-Weizenbörse. Der Wert eines Tieres aus seinem Nutzen für den globalen Markt. Weder Mensch noch Tier stehen bei irgendeiner Form der Globalisierung im Mittelpunkt, sondern milliardenschwere Konzern-Bilanzen weltweit. So ging es seinerzeit (2002-2012) weder Monsanto in Indien um die Bekämpfung der Armut der Reis- und Baumwoll-Bauern, sondern um die Erschließung eines Marktes mit ca. 550 Mio. Bauern. Noch geht es heute Bayer CropScience, Syngenta, Cargill, etc.pp. um die
Bekämpfung der Armut und des Hungers in der Welt. Es geht vielmehr um Patente auf Nahrungsmittel und Schlachttiere, somit um „Markt-Anteile“ (2015 hielten Monsanto, DuPont und Syngenta 90% der Marktanteile für Zuckerrüben [Zucker ist wichtiger Bestandteil in vielen Lebensmitteln, sei es als Süßungsmittel, als Farbstoff, E 150a-d, oder als Emulgator z.B. Zuckerglyceride, E 474], 57% für Mais und 55% für Sojabohnen), somit um Milliarden-schwere Geschäfte und letztlich um Macht-Faktoren. Weltweit. Der Krieg um Markt-Anteile, um Markt-Segmente, um das „world-leadership“ ist schon längst entbrannt. Auch wenn wir Verbraucher/-innen hiervon lieber nichts wissen wollen. Schließlich wollen wir guten Gewissens billig einkaufen — zu (fast) jedem Preis. Jedoch bedenken wir hierbei nicht, dass der „Preis“, den wir für diese Form des deregulierten, „entfesselten“ Merkantilismus bezahlen müssen, weitaus höher und auch größer ist als die Discounter-Preise auf irgenwelchen Artikeln und Waren. Letztlich befinden wir uns zur Zeit auf einem Weg ständiger Ent-Wertung, Ent-Würdigung, Ent-Menschlichung — auf einem Weg der Ver-Achtung, der Ver-Nichtung, der: Ver-Marktung. Wo einstmals und bis vor kurzer Zeit noch Menschen-Werte Gültigkeit besaßen und Leben gestalteten (vgl. UNO-Präambel), dort stehen heute alles beherrschende Markt-Werte hoch im Kurs. Eine Ent-Heiligung allen Lebens.
Der Mensch ist also weder ausschließlich „seines Glückes Schmied“, noch ist er, wie es Friedrich Nietzsche formulierte, „ein Übergang und ein Untergang“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Kapitel 5). Vielmehr ist der Mensch Existenz in Verantwortung gegenüber dem Leben, dessen Teil er ist. Als Teil trägt der Mensch Verantwortung fürs Ganze des Lebens.
Zusammen-Fassung: Wo über Jahrtausende hinweg in verschiedenen Kulturen und deren Religionen Gottes-Bilder (Göttinnen-Bilder) und Schöpfungs-Mythologien den glaubenden Menschen eine Einheit von „Welt“ und „Mensch“ und diesem eine Ganzheit in Gott darbot — diese ungeheure Geborgenheit (vgl. Jesaja 49,16) inmitten all der Kriege, des Hungers, der Krankheiten, des Leides, des Todes, die es auch damals schon gab — hat die Moderne und zur Zeit der Merkantilismus der „Globalisierung“ uns Menschen eine unübersehbare Flut von Fakten, Informationen, Nachrichten, Meinungen, und vor allem: Waren, Kaufwaren hinterlassen. Die Wärme der Beziehung innerhalb einer Lebens- und Glaubens-Gemeinschaft wurde einerseits durch das „kalte Licht der Wissenschaften“ (Karl Jaspers) und andererseits durch ausbeuterische Mechanismen und Strukturen eines Welt-Marktes ersetzt. Die einstige Einheit wurde zu immer kleiner werdenden Fragmenten der Partikular-Wissenschaften zersprengt. Die Ganzheit des Menschen mit Gott und der Welt zu stets winziger
werdenden, beziehungslosen, konfettihaften „Partikeln“ zerstreut. Mensch-Sein in der Welt gleicht heute einem Spiegel, der in Millionen winzigster Splitter zersprungen ist. Noch immer spiegelt jeder einzelne Splitter (des menschlichen Geistes) Mensch-Sein, Welt-Sein, Gottes-Wirklichkeit wider. Jedoch: zerborsten, zersplittert, Beziehungs-los, Gestalt-los, verzerrt. Ein Ozean aus Daseins-Splittern.
Fortsetzung „vom Menschen“ folgt in Teil 2.
Quellen und Nachweise
Kybernetik in Geistes- bzw. Sozialwissenschaften
Chicagoer Börse, Terminwarengeschäfte, Weizen; (siehe auch Chart „Basiswissen“)
Zum Agrar-Bigbusiness
Die größten Pestizid- und Saatgutkonzerne