Wie es bröckelt und schwindet, Erzählung Teil 5


Wie es bröckelt und schwindet

Erzählung, Teil 5

 

II

Drei Jahre dauerte es, bis ich eine erneute Einladung des Präfekten erhielt – aber es war doch alles anders, als beim ersten Mal. Ich hätte enttäuscht sein und mir einreden können, dass ich mir alles verscherzt hätte durch meinen unbedachten nächtlichen Ausflug. Tatsächlich blieb ich nicht frei von solchen Anwandlungen. Dass sich der Gedanke nicht verfestigen konnte, lag wiederum am Präfekten, der mir in unverändert freundlicher und interessierter Weise begegnete. Wenn sich die Gelegenheit ergab – er war nicht mein Gruppenleiter, weshalb die Gelegenheiten zum Gespräch begrenzt blieben – unterhielten wir uns über Bücher, Rockmusik[1] oder das Pfeife-Rauchen, wofür ich Interesse hegte. Dabei bekam ich nie das Gefühl, dass er an meinen Fauxpas überhaupt noch dachte.

Auch die älteren Schüler, die damals in der Tischrunde dabei gewesen waren, nickten mir zuweilen noch freundlich zu. Wenn ich daran denken konnte, dass vielleicht alles nur ein Traum gewesen sei, der mit der Realität, die mich umgab, dem Trockendienst und den Klassenarbeiten, nichts zu tun hatte, sprach nicht nur die alte „Demian“-Ausgabe in meinem Pult dagegen, sondern auch der eine oder andere ältere Schüler selbst, der sich mit mir auf ein Gespräch über Literatur einließ. Diese Gespräche waren allerdings nicht mehr von gleicher Art wie damals in der Tischrunde, weil sie sich nur bei zufälligen Begegnungen ergaben und sich entsprechend oberflächlich gestalteten. Trotzdem: ein gewisses Wohlwollen mir gegenüber stellte ich noch fest, und das beruhigte den Stachel in mir, dass ich im Nachhinein gewogen und als zu leicht befunden worden wäre.

Bei einer dieser zufällig sich ergebenden Gespräche über Literatur bot mir Gerold H. an, mir ein Buch aus der Bibliothek zu holen. Ob ich einen Wunsch habe?

„Ach, sagte ich, „bring mir einfach eins, von dem du glaubst, dass es mir gefallen könnte.“

Das Wort „Bibliothek“ elektrisierte mich. Ich würde gewiss nicht wieder durch das Fensterglas der Studiersaal-Tür schauen, um mich von ihrem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein zu überzeugen, aber nun wartete ich gespannt darauf, ob mir Gerold H. tatsächlich ein Buch bringen würde und es als Bibliotheks-Exemplar durch eine Signatur und eventuelle weitere Eintragungen erkennbar wäre.

Tatsächlich winkte er mir schon am nächsten Tag in der Mittagsfreizeit auf dem Freigelände zu und hielt ein Buch hoch. Ich kam ihm entgegen. Er drückte mir Hesses „Traumfährte“ in die Hand. Der Band war mit einer handgeschriebenen einfachen Signatur sowie dem Stempel des Hauses versehen.

„Nicht das richtige?“ fragte Gerold H.

„Wie? – Oh, doch! – Vielen Dank!“

„Du kannst es mir zurückgeben, wenn Du es gelesen hast. Musst nicht extra in die Bibliothek kommen“, meinte Gerold H. noch, schon im Aufbruch begriffen.

„Gut“, sagte ich und starrte ihm nach.

„Traumfährte“ habe ich ihm nach ungefähr zwei Wochen in einer Kaffeepause im Speisesaal zurückgegeben.

Im neuen Schuljahr würde ich Untersekundaner sein und zur Gruppe des Präfekten gehören, dachte ich, dann würde ich dort einen Pult erhalten und könnte alles persönlich in Augenschein nehmen. Aber es kam anders.

Zum Halbjahr wurde in der Aula eine Verabschiedungsfeier für den Präfekt und den Rektor veranstaltet. Der Präfekt ging in Pension, und der Rektor wurde – seinem langjährigen Wunsch entsprechend – Gemeindepfarrer in H. Ein neuer Rektor kam – der erste Laie in diesem Amt – ein Sozialarbeiter (der später das Theologie-Studium nachholte, in einen Orden eintrat und noch später daraus wieder entfernt wurde; aber diese Geschichte will ich nicht erzählen). Er krempelte alles um im Haus. Aus dem Studiersaal der Sekundaner ließ er einen Werkraum herrichten. Ich ging einmal hin und sah – einen Werkraum.

Dann ergab es sich plötzlich, dass auch ich mit Ende des Schuljahres die Schule und das Internat verlassen würde. Eine neue Schule in F. bot meinen Neigungen entsprechende Unterrichts-Angebote. Gleichwohl bedauerte ich es, die mächtige Holztür des Internats bald hinter mir zu schließen und die steinerne Treppe mit zwölf Stufen koffer- und rucksackbepackt zum letzten Mal hinunter zu gehen.

Der Präfekt lebte in einer Wohnung, die vielleicht eine Viertelstunde Fußweg vom Internat entfernt lag, schräg gegenüber vom Bahnhof. Zuweilen erschien er noch zum Abendessen im Speisesaal und hielt später die Abendansprache in der Kapelle. So war es auch noch einmal kurz vor den Sommerferien, als er in unvergesslicher Weise über Augustinus sprach, den er besonders gut kannte und über den er, wie ich gehört hatte, einen Aufsatz veröffentlich hatte. Ein wunderbarer Frühsommer-Abend trieb viele ältere Schüler später nach draußen auf das Freigelände. Dort traf ich den Präfekt, als er nach Hause gehen wollte. Wir unterhielten uns über meinen bevorstehenden Weggang. Er meinte, ich solle ihn noch einmal besuchen, bevor ich das Haus und die Stadt verlassen würde. Ich bedankte mich und sagte zu, aber es dauerte dann bis zum letzten Schultag – meinem Abreisetag – dass ich den Besuch antreten konnte. Am Bahnhof schloss ich Koffer und Rucksack in ein Schließfach und überquerte die R.straße, wo sich im ersten Stockwerk des Hauses Nr. 43 seine Wohnung befand.

[1] Zur kopfschüttelnden Verwunderung seiner Erzieher-Kollegen war der Präfekt ein Liebhaber der Rockmusik.

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