Rezension
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. 3., überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld 2015, 488 S.
Das in sieben Kapitel chronologisch gegliederte Buch referiert den bundesrepublikanischen Diskurs über die „Bewältigung“ der nationalsozialistischen Vergangenheit. Politische, wissenschaftliche, juristische, gesellschaftliche, künstlerische und mediale Aspekte werden referiert. Durch diesen „interdisziplinären Zugriff“ setzen sich die Herausgeber Torben Fischer und Matthias N. Lorenz von früheren und in ihrem Lexikon mehrfach dokumentierten Erklärungsversuchen für die Jahre 1933 bis 1945 ab, als die „Dämonie“ Hitlers und seine „Verbrecherclique“ die gesamte Verantwortung für die Katastrophe der braunen Diktatur mitsamt dem Holocaust zugesprochen bekamen. Die interessierte Leserschaft, welche das Lexikon nicht nur als reines Nachschlagewerk für einzelne Stichwörter nutzen will, hätte hier einen Ansatz zu Hand, um die Reflexe und den allmählichen Wandel der beschriebenen Denkweise auf den verschiedensten Ebenen des gesellschaftlichen Lebens wiederzufinden.
Neben Stichwörtern wie „Jürgen Möllemanns Israel-Flugblatt“ oder „Martin Walser: Tod eines Kritikers“, die Einzelaspekte thematisieren und einzuordnen versuchen, sind zeitlich übergreifende Punkte zu finden, an deren Beispiel wie in einem Prisma die Facetten bundesrepublikanischen Erinnerungs- und Interpretations-Diskurses des Nationalsozialismus nach 1945 aufleuchten. Was etwa das Stichwort „Nationalsozialismus im Schulunterricht“ (S. 182 ff.) betrifft, ist es in fünf kleine Kapitel aufgeteilt, die wiederum chronologisch von der Zeit „unmittelbar nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur“ über die fünfziger, sechziger, siebziger und achtziger Jahre bis zum Schlusskapitel „Perspektiven einer Holocaust Education“ reichen. Die Leserschaft erfährt, dass der Geschichtsunterricht an den Schulen nach dem Krieg unter alliierter Aufsicht teilweise ausgesetzt und teilweise gestattet wurde, sofern er die NS-Zeit ausblendete. Geschichtsbücher wurden konfisziert, belastete Lehrer im Zuge der Entnazifizierung entlassen. Neue Schulbücher bedurften der Genehmigung durch die Alliierten. Ab 1947 wurde in allen Zonen der Geschichtsunterricht wieder erteilt. Bereits 1946 war mit Erich Wenigers Buch „Neue Wege im Geschichtsunterricht“ ein Werk erschienen, das eine kritische Auseinandersetzung mit der unmittelbar zurückliegenden NS-Vergangenheit forderte und insbesondere den Terror in den Konzentrationslagern herausstellte. Die Einschätzungen überlagerten und widersprachen sich; während in den Klassenzimmern (und nicht nur dort!) die Frage aufgeworfen wurde, wie die „Kulturnation“ Deutschland in die Barbarei absinken konnte (womit eine Art „Betriebsunfall“ impliziert wurde, der nun überstanden war), erschien im Gründungsjahr der BRD, 1949, mit „Wege der Völker“ ein weiteres Geschichts-Schulbuch, das kritische Impulse zu setzen versuchte, indem es „mit überkommenen politischen und personenzentrierten Ansätzen“ brach und „die Massenvernichtung sowie die Fragen nach der Verantwortlichkeit der Mitläufer sehr ausführlich“ behandelte.
Ein „vernetztes Lesen“ bietet sich im „Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland“ an, wenn die Leserschaft erfährt, dass die „kritischen Impulse“ für den Geschichtsunterricht bereits in den fünfziger Jahren wieder zurückgedrängt und „als Angriff auf die sich formierende Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik verstanden“ (S. 183) wurden. Ein „aggressiver Antikommunismus“ sowie die Totalitarismustheorie, wonach der Nationalsozialismus und der Kommunismus verwandte Ideologien seien, tat ein Übriges, um die Frage nach der „Verantwortlichkeit der Mitläufer“ zu umgehen. Hinzu kam die nach wie vor virulente Überzeugung, dass Hitler und seine Getreuen die alleinige Schuld an den NS-Verbrechen besäßen. Ein Satz wie „Noch 1956 fehlte in den Lehrplänen einiger Länder jegliche Erwähnung der Judenverfolgung“ (S. 183) verwundert in diesem Kontext nicht mehr. Was das „vernetzte Lesen“ betrifft, können im Stichwort „Amnestien“ und an vielen weiteren Stellen Analogien zu den Verdrängungsversuchen der braunen Vergangenheit während der Adenauer-, Wirtschaftswunder- und Kalten-Kriegs-Zeit nachgelesen werden.
Der bundesrepublikanische Erinnerungsdiskurs – hier am Beispiel des Geschichtsunterrichts an den Schulen erläutert – war in den zurückliegenden Jahrzehnten von Schwankungen und Fehleinschätzungen geprägt sowie von immer neuen Versuchen, eine zeitgemäße Umgangsweise mit der Singularität der NS-Verbrechen zu finden. Wenn sich die KMK im Februar 1960 dazu entschloss, die „Behandlung der jüngsten Vergangenheit im Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht“ zu verstärken, bedeutete dies noch lange keine raschen Verbesserungen im Kenntnisstand der Lernenden, wie eine repräsentative Umfrage im Jahr 1964 nachweisen konnte. Auch die „Kritische Geschichtswissenschaft“, die sich an die „Kritische Theorie“ anzulehnen versuchte und den Unterricht in der Gesellschaftslehre zur Systemveränderung gestalten wollte, musste nach einer Erhebung im Jahr 1976 („Bossmann-Schock“) eine erhebliche Kluft zwischen Lehrinhalten und tatsächlichem Wissen bei der Schülerschaft einräumen.
In den achtziger Jahren wurden die Schüleraktivitäten auch auf die lokale Alltagsgeschichte gelenkt, wodurch das Spektrum der – selbst erforschten – NS-Geschichte eine für den Lern- und Erinnerungswert nachhaltige Komponente erfuhr. Die Ausweitung des Holocaust-Themas auf den Religions-, Ethik- und Deutschunterricht muss in dem Maße vor sich gehen, dass die Lernenden keine Überdruss- und Abwehrreaktionen zeigen. Menschenrechtsbildung mit der Vermittlung historischer Kenntnisse zu verbinden, wie es das 1995 gegründete Fritz Bauer-Institut anstrebt, leitet die Schulpädagogik bis heute – mit ungewissem Ausgang.
Das instruktive „Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung’ in Deutschland“ hat an anderen Stellen schon viele positive Besprechungen erfahren. Der Rezensent schließt sich mit der Bemerkung an, dass das Werk über den Wert eines Lexikons hinaus zu einem zeitweiligen Lesebuch werden kann und dabei die Leserschaft hervorragend über sein Thema informiert.
(Erstveröffentlichung: informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, Nr. 85, Juni 2017, 42. Jg., S. 35 f.)
Johannes Chwalek