Wie es bröckelt und schwindet Erzählung, Teil 2


Wie es bröckelt und schwindet

Erzählung, Teil 2

 

An diesem Abend – ich lag schon zu Bett – wurde ich aus dem Schlafsaal gerufen. Ich wunderte mich – hatte ich etwas ausgefressen? Ein älterer Mitschüler – Gerold H. – beschied mir, zurück zu gehen in den Schlafsaal, mich leise anzuziehen und wieder zu ihm auf den Gang zu kommen. Er würde mich „dann schon wohin bringen.“ Verwirrt suchte ich den Rektor, der heute die Aufsicht führte. Er tauchte tatsächlich auf, schien die Situation blitzschnell zu erfassen, aber sah mich nur mit einem Ausdruck an, in dem sich für mein Empfinden Achtung, Zweifel und Geringschätzung mischten.

„Geh schon!“, sagte Gerold H.[1]

Rasch musterte ich noch einmal den Rektor, aber er schien das Kommando an Gerold H. abgegeben zu haben.

Beim leisen Anziehen im Schlafsaal erwartete ich jeden Augenblick eine erstaunte Frage der Kameraden, was ich da tue und was dies zu bedeuten habe, aber nichts dergleichen geschah, alle schliefen scheinbar schon fest.

Zurück auf dem Gang, forderte mich Gerold H. zur Begleitung auf, doch bevor ich gehorchte, vergewisserte ich mich noch einmal des Rektors, der ebenfalls noch dort stand, wo ich ihn soeben verlassen hatte.

„Der Präfekt hält zu viel von dir“, sagte er und ließ mich ziehen. Ich war verblüfft. Was sollte ich darauf erwidern? Verdrossen ging ich Gerold H. nach. Er schwieg, als wir vom Schlafsaaltrakt über die Haupttreppe hinunter gingen.

Unser Weg führte – ich ahnte es bald – zum Studiersaal der Sekundaner – aber der Saal hatte sich ganz verändert. Statt einzelner Pulte für den Präfekt und die Schüler war nur noch ein großer runder Tisch vorhanden, der in der Mitte ein großes Loch umspannte, in dem sich nichts befand. Wo kam der Tisch her? Wo waren die Pulte? Und wo war die Bibliothek?

Der Präfekt und einige andere ältere Schüler saßen am Tisch und schienen bester Laune zu sein. Freundlich lächelte mir der Präfekt zu und wies mir durch eine Geste einen Platz an. Während ich mich zögernd und wie vor den Kopf geschlagen setzte, stellte mir Gerold H. ein Glas hin und wartete.

„Wir trinken jeder ein Glas Wein“, wandte sich der Präfekt an mich, „aber du sollst etwas anderes haben. Was dürfen wir dir anbieten? Einen Saft, eine Limonade?“

„Ach, ich trinke nur Wasser“, antwortete ich.

„Nur Wasser“, wiederholte der Präfekt, „in Ordnung!“

Gerold H. öffnete eine Flasche mit Mineralwasser und schenkte mir ein. Dann setzte er sich zu den andren an den Tisch.

„Danke, Gerold“, sagte der Präfekt.

Er holte eine Pfeife hervor und fragte mich freundlich:

„Du erlaubst, dass ich rauche?“

Ich konnte nur mit den Achseln zucken. Ich hatte meine Sprache noch nicht gefunden.

Zwei Schüler holten ebenfalls Pfeifen hervor, einer fragte den Präfekt:

„Ich habe auch meine Pfeife dabei. Erlauben Sie, dass ich auch rauche?“

„Aber selbstverständlich!“, erhielt er zur Antwort. „Gleiche Brüder, gleicher Knaster!“

„Prima!“, bedankte sich der Schüler und stopfte sich die Pfeife. Mehrere andere taten es ihm nach, so dass die Luft bald ganz erfüllt war vom wohlriechenden Pfeifen-Tabak.[2]

„Diese Runde verblüfft dich, was?“ fragte mich der Präfekt.

„Ja.“

„Na, du wirst dich hoffentlich wohl fühlen bei uns! Das Hofzeremoniell ist weitgehend aufgehoben. Jeder redet frei von der Leber weg. – Ich habe dich eingeladen, weil du mir als der jüngste in unserem Kreis erscheinst und wir dich gerne kennenlernen würden.“

„Kennenlernen?“ fragte ich erstaunt.

„Anders als du es meinst. Natürlich kennen wir dich. Aber was uns hier alle vereint – Abenteurer des Lesens und der Gedanken zu sein – kennen wir noch nicht von dir. Willst du uns erzählen, wie es begonnen hat? Erst hier im Haus – mit Hermann Hesse vielleicht? Oder vorher schon – vielleicht mit Tiergeschichten?“

Ich sah in die Runde. Nicht nur der Präfekt sprach freundlich und sah mich aufmunternd an. Auch die älteren Schüler hatten ihre sonstige Gleichgültigkeit, wenn nicht sogar Überlegenheits-Gestik, wenn sie eines Jüngeren wie mir gewahr wurden, abgelegt und schienen ganz verwandelt zu sein. Hing es damit zusammen, dass sie sich wirklich dafür interessierten, was ich zu sagen hatte? Ich trank einen Schluck Wasser und erzählte:

„Das erste Buch, das ich gelesen habe… das war vielleicht mit sieben oder acht Jahren… hieß ‚Wutz. Die Geschichte eines Wildschweins’ oder so ähnlich. Es geht in diesem Buch nur um ein Wildschwein, wie der Titel schon sagt, vom Frischlings-Dasein in der Rotte bis zum Leben als alter und einsamer Keiler.“

Der Präfekt wollte eine Frage stellen, merkte jedoch, dass mir die Worte nicht ausgingen und ließ mich weitersprechen.

„Menschen kommen glaube ich nur ganz selten vor… es ist ja schon eine Weile her, dass ich das Buch gelesen habe… vielleicht ein Förster oder Urlauber im Wald, die besser wieder verschwinden sollten.“

Ein Lächeln verbreitete sich im Raum. Einer der Schüler fragte mich:

„Was hat dich fasziniert an dem Buch?“

Ich überlegte kurz und antwortete:

„Es hat mich auf eine Idee gebracht.“

Noch eine Spur wohlwollender und interessierter schaute mich der Präfekt an.

„Handeln die meisten Bücher nicht von Menschen? Ich habe natürlich noch nicht viele gelesen, aber ich glaube, so ist es, oder?“

Die älteren Schüler nickten, und der Präfekt sagte:

„Der Mensch ist das Maß aller Dinge – auch in der Literatur.“

Ich verstand nicht genau, was das bedeutete, wollte mich aber noch genauer erklären:

„Warum soll es nicht auch Bücher über andere Tiere geben… über ihr ganzes Leben… über einen Löwen, eine Gazelle oder ein anderes Tier – auch solche, die wir als Menschen nicht mögen? Warum nicht über das Leben einer Pflanze, eines Baumes – oder auch über die Entstehung des Lebens auf der Erde?“

„Aber solche Bücher gibt es doch“, wandte ein älterer Schüler ein.

„Ich meine, dass diese Themen in Form von Geschichten dargestellt werden, nicht in Form von Naturkunde-Büchern.“

Der Präfekt lächelte wieder und sagte:

„Naturkundliche Vorgänge poetisch zu beschreiben, das scheint mir wahrhaftig eine Herausforderung zu sein. Ich freue mich, dass unser junger Gast (mit Blick in die Runde) – unser ganz besonders junger Gast! – diesen diskutablen Gedanken äußert. (wieder zu mir gewendet) Gibt es noch ein weiteres Buch, das Dich früher ähnlich fasziniert hat wie die Geschichte des Wildschweins?“

 

[1] Dass ich im Folgenden auch den Anfangsbuchstaben des Nachnamens meiner ehemaligen Mitschüler schreibe, hat den Grund, dass wir uns selbst damals mit Vor- und Zunamen nannten, wenn wir übereinander sprachen. Auch die Erzieher hielten dies so.

[2] Ich erzähle von einer anderen Zeit. Unsere Lehrer und Erzieher fanden nichts dabei, wenn sie in unserer Gegenwart rauchten. Und sie erlaubten uns auch selbst zu rauchen, sobald wir nur fünfzehn, sechzehn Jahre alt waren.

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