Johannes Chwalek
Wie es bröckelt und schwindet
Erzählung
Teil 1
*
I
Das Gebäude betrat man an der Ostseite über eine steinerne Treppe mit zwölf Stufen. Eine mächtige Holztür gab den Weg frei zu einem Zwischenbereich, der gewöhnlich von zwei Schülern als Pförtnern durch ein kleines Fenster überwacht wurde. Eine zweite Tür – nicht weniger mächtig als die erste – führte zum Foyer. Dort sah man linker Hand in den Kapellengang, an dem Verwaltungs-Zimmer, die Sakristei und der Eingang zur Kapelle lagen. Geradeaus blickte man auf die Haupttreppe, die sich teilte: links führte sie nach oben, rechts nach unten. Wäre man die rechte Treppe nach unten gegangen, hätte man meinen können, in den Keller vorzustoßen; in Wahrheit hielt man sich ebenerdig im Bereich des Studiersaals der Unterstufe – wir sagten damals noch Unterstufe – eines Clubraums und der Duschkabinen auf. Das „gefühlte“ Erdgeschoss war also eigentlich das erste Stockwerk; der „gefühlte“ Keller war eigentlich das Erdgeschoss und das „gefühlte“ erste Stockwerk war eigentlich das zweite Stockwerk usw. Auch die Bibliothek – um deren Inhalt, die Bücher, es in diesen Zeilen vorrangig gehen soll – wartete mit einer Besonderheit auf, besser gesagt mit einem Geheimnis, das ich nicht ergründen konnte: Sie war nämlich im Studiersaal der Unter- und Obersekundaner eingerichtet worden – wir zählten die Klassenstufen damals noch mit diesen alten Bezeichnungen – und manchmal befand sie sich auch dort, und manchmal – war es nicht sogar meistens? – nicht. Ich weiß noch, wie ich eines Nachmittags einen Blick durch das Fensterglas der Studiersaal-Tür werfen konnte. Linker Hand sah ich den Präfekt[1], der vornübergebeugt an seinem Pult saß und mit kraftvoll-konzentrierten Federstrichen ein Blatt Papier beschrieb; rechter Hand saßen ihm in gebührlichem Abstand die Sekundaner an ihren Pulten gegenüber und waren ihrerseits mehr oder weniger in eigene Denk- und Schreibangelegenheiten vertieft. Es war nur ein Augenblick, in dem ich als Schüler der vielleicht siebten Klasse diese Szene erhaschen konnte, niemand im Studiersaal bemerkte mich, obgleich es ein Leichtes gewesen wäre, mich hinter dem Fensterglas im Türrahmen zu entdecken. Ergriffen von Ehrfurcht vor den „Großen“, deren Status ich auch einmal erlangen wollte, und dem schwungvoll schreibenden Präfekten, bemerkte ich kaum, dass von der Bibliothek nichts vorhanden war.
Der Präfekt war ohne Zweifel der spiritus rector des Hauses; es genügte, ihn anzusehen, wie fein und würdevoll er sich zwischen uns bewegte; wie er sprach oder beim Essen im Speisesaal sich verhielt; wie er abends im Schlafsaal-Gang die Aufsicht führte oder am schwarzen Brett eine Mitteilung befestigte, die er mit seiner schönen und charakteristischen Handschrift angefertigt hatte. Was aber wirklich mit ihm war, begriff – oder ahnte ich zumindest – erst, nachdem ich eine Einladung – besser gesagt Aufforderung – in die Bibliothek erhalten hatte.
Dies geschah nicht sofort nach meinem Eintritt ins Haus, sondern bahnte sich langsam an. Der Präfekt – sein Name war Siegfried Schramm, aber wir Schüler nannten ihn alle nur mit seiner Amtsbezeichnung, die ich hier aus alter Gewohnheit beibehalten will; untereinander sprachen wir von ihm als dem „Prä“ – der Präfekt also, der von seinen Erzieherkollegen[2] samt dem Rektor eher ungünstige Äußerungen über mich gehört hatte als einem unruhigen und aufsässigen Zögling, führte eines Abends die Spätaufsicht im Schlafsaalgang, als ich von meinen beiden älteren Brüdern Herbert und Reinhard nach der Beerdigung des Großvaters zurückgebracht wurde. Der kameradschaftliche Umgang der Brüder mit mir und ihr leutseliges Verhalten mit dem Erzieher, den sie antrafen, bestimmte den Präfekt zu ersten Zweifeln an der Meinung seiner Kollegen. Er beobachtete mich von nun an genauer und hielt die Ohren auf, wenn von mir die Rede war. Dabei hörte er einmal, dass ich ein passabler Schüler sei, besonders im Fach Deutsch, und die Möglichkeit zur stillen Beschäftigung am Schluss der nachmittäglichen Übungszeiten regelmäßig nutzte, um Geschichten zu schreiben. Welche Geschichten dies seien? fragte er mich einmal. Ich zeigte ihm meine Mappe mit säuberlich geschriebenen Tiergeschichten, die ich mit Klebestreifen zusammengefügt hatte. Der Präfekt warf einen aufmerksamen Blick darauf und hielt einen Moment inne. Gelesen hat er keine Geschichte, aber das störte mich nicht. Er war der einzige, der sich nach meinen Geschichten erkundigte.
Wieder verging eine längere Zeit, bis ich dem Präfekten zum dritten Mal auffiel: Es war dies um die Wochen, als ich den Blick in den Studiersaal der Sekundaner erhaschen konnte. Der Präfekt entdeckte mich in der Abendfreizeit auf dem Freigelände des Hauses mit einem Buch in der Hand und fragte nach dem Titel, ich hielt ihm „Unterm Rad“ von Hermann Hesse hin und nannte höflich Titel und Autor. „Schön“, sagte er nur, und dann: „Gewiss wirst du noch weitere Bücher von Hesse lesen. Kennst du „Demian“? Ich verneinte, was ihn zu einem langsamen Kopfnicken veranlasste. Als er mich entließ, spürte ich seinen wohlwollenden Blick im Nacken. Eine Amsel zwitscherte von einem nahen Baum, die Luft war lau und vom Sandplatz hallten die Rufe der Fußballspieler herüber.
[1] Ich treffe – einseitig, wie es nicht anders geht – mit dem Leser eine Vereinbarung und dekliniere das Wort „Präfekt“ nur im Genitiv und Dativ, nicht aber im Akkusativ, wo es mir veraltet erscheint. Natürlich könnte man darüber streiten: Warum soll „dem Präfekten“ weniger veraltet klingen (oder aussehen) als „den Präfekten“? Und natürlich ist die Bezeichnung „Präfekt“ für einen Pädagogen ohnehin aus der Zeit gefallen, aber dazu gleich mehr.
[2] Das Wort „Erzieher“ gebrauche ich hier in einem allgemeinen Sinn. Von ihren Ausbildungen her war der Rektor ein Geistlicher, der Präfekt ein Philologe und Theologe und Rainer I. noch ein Student. (Er wurde später Lehrer.) Welche Ausbildung Frau H., die Leiterin der Unterstufe, absolviert hatte, weiß ich nicht.