Demokratie perdue?
07.05.2017
Was ist das nur für eine rätselhafte, von Menschen gemachte „Zeit“? Eine Zeit, in der die Kultur des Ressentiments — diese emotionsaufgeladene Geistes-Haltung aus tiefgreifendem Groll, alles zersetzendem Neid, Wut und Hass — wieder salonfähig geworden ist und sich nun anschickt, demokratisch verbriefte Wahlen mittels Intrigen und Rankünen zu entscheiden. Was denken die Träger dieser „neuen“ Leit-Kultur, diese Leitwerte-Bildner, diese Unwerte-Schaffenden, wenn sie fühlen…—? Denn — das konnte schon Friedrich Nietzsche in seiner „Genealogie der Moral“ (1887) sehr präzise beschreiben —: Die tiefste Motivation eines Ressentiment-Menschen kommt aus seinem Gefühl, u.z. aus einem Gefühl von Wut und Hass, selbst dann, wenn er glaubt, dass er denkt, und dieses „Denken“ in der Folge auch eloquent „unters Volk“ zu bringen vermag. Und fühlen diese „Wut-BürgerInnen“ und „Ressentiment-Rhetoren/-innen“ schon wieder, oder doch: noch immer, wie es schon ihre Vorahnen in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts taten: etwa, dass Demokratie nichts Gutes sein kann, wenn doch Diktatur einem selbst als die bessere Regierungs-Form erscheint…? Oder, dass „Lug & Trug“ doch die besseren Werte seien, zumal dann, wenn man damit doch Unsummen verdienen kann? Wie ließe sich nur erklären, warum heutzutage — schon wieder oder: immer noch — Aggressionen aller Art eine neue „Leit-Kultur des Ressentiments“ aus der Taufe heben und eine „Umwertung der Werte“ (Nietzsche, a.a.O.) in unvorstellbarem Ausmaß voran-treiben können? Wie konnte nur das „Unvorstellbare“ innerhalb so weniger Jahre und Monaten zum Faktischen werden…—? Denn politisch „unvorstellbar“ war bis dato, dass man via Hacker-Angriffen und gezielt eingesetzter „fake-news“ Wahl-Entscheidungen beeinflussen und Wahlausgänge mitbestimmen würde. Unvorstellbar war dies bei Donald Trump — faktisch ist er heute der 45. Präsident der USA. Unvorstellbar war dies auch bei Marine Le Pen — faktisch jedoch war der Hacker-Angriff gegen Emmanuel Macron einen erneuten Versuch wenigstens „wert“. Heute ist so viel „Unvorstellbares“ wenigstens einen Versuch „wert“: Das beginnt bei Kleinigkeiten des Alltages, sagen wir: während des Autofahrens mit dem Handy oder SmartPhone telefonieren, oder auch mal bei „Rot“ über die Ampel fahren, oder vielleicht ein illegales Autorennen in der Innenstadt probieren…— So etwas von dieser Art. „Unvorstellbares“ gab und gibt es aber auch in „Konflikt-Situationen“, sagen wir: in Columbine oder Erfurt, oder wenn ein Jugendlicher einen anderen Jugendlichen im „Affekt“ erschlägt oder dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit malträtiert. Oder, weil es dieser Tage zum Prozess kam, dass Jugendliche einen schlafenden Obdachlosen einfach mal so aus Langeweile anzünden. Ebenfalls „unvorstellbar“ war bis zum März 2015, dass ein Pilot ein Verkehrsflugzeug mit 150 Passagieren an Bord in eine Bergwand steuern würde. Oder auch dies war bis dato selbst für einen Krieg „unvorstellbar“: dass eine Kriegspartei ganz gezielt Krankenhäuser und Schulen mit Zivilisten darin, bombardieren würde — ein klarer Bruch der „Genfer Konventionen“ (vgl. Genfer Abkommen IV, 1949) — und die Verantwortung hierfür durch einfachstes Ableugnen negieren würde. Die faktisch gewordene „totale Verantwortungslosigkeit jedermanns“. Auf welchem „Schlingerkurs“ schlittert die Menschheit heute voran? Und vor allem: In welche „Welt“-Situation schlittert sie denn da hinein — als ob sie dünnes Eis oder Seife auf der Schräge der faktisch-trügerischen Realität unter ihren Füße hätte… Ist der „Neue Mensch“, der ersehnte „Übermensch“ aus Nietzsches Nihilismus-Philosophie, vielleicht der vollkommene „Ressentiments-Mensch“, der gegen alles und jeden grollt, der alles jedem anderen neidet, der ewig Zukurz-Gekommene, der, um den Schmerz seiner eigenen Ohnmacht besser ertragen zu können, alles Andere: verleugnet und hasst?! Lässt es sich denn im Hass besser leben, als in der Tugend der Nächstenliebe? Oder ließe sich im alles zersetzenden Neid das eigene Leben etwa besser genießen als in der Souveränität des Wohlwollens, als im Respekt wechselseitigen Gönnens? Lebt sich’s im ätzenden Groll denn wirklich besser, als in einer ethisch gegründeten Gemeinschaft, die auf Versöhnung und Verzeihen basiert?
Was denken und was fühlen jene 50% der rechtspopulistischen Wähler-Scharen, dass sie ungeprüft jeden stimmigen „Allgemeinplatz“, jede manipulative Polit-„Stereotype“, jede noch so ungebildete Polit-Phrase — sofern sie sich nur wie eine „Ressentiment-Intarsie“ in ihr eigenes Lebens-Gefühl einfügt oder sich wie ein „Ressentiment-Mosaiksteinchen“ in ihr „Gesamt-Weltbild“ einpasst — lieber glauben denn kritisch hinterfragen möchten? Gibt es denn wirklich so etwas wie persönliche, „alternative Fakten“? Und doch regiert zur Zeit faktisch— in dieser „Epoche des Unvorstellbaren“ — ein US-amerikanischer Politiker eine von drei „Weltmächten“ damit. Erlässt nach eigenem Gutdünken Dekrete ohne Maß und Zahl, schasst soeben in autokratischem Habitus den FBI-Direktor, James Comey, weil dieser mit seinen Recherchen sowohl der Macht als auch dem „guten Ruf“ eben jenes Präsidenten gefährlich nahe kam. Zu nahe. Zu gefährlich. Jedoch: Was könnte das nur für eine „Welt“ wie auch „Macht“ sein, in der die Lüge (fake) systematisch zur Staats-Raison und schlimmer noch: in weiten Teilen der Gesellschaft zur gültig geglaubten Wahrheit erhoben wird…—? Bis vor kurzem war beides noch: unvorstellbar. Aber nochmals: all diese Trumps, Orbans, Kaczyńskis, Le Pens, Wilders und selbst Erdoğans dieser „Fake-Zeit“ kanalisieren und konzentrieren lediglich emotionale „Großwetterlagen“ innerhalb der jeweiligen Bevölkerung, die sie zu politischen „Stürmen“, „Kämpfen“, „Schlachten“ (alles ihre eigenen Vokabeln…) zu steigern suchen. Der politische „Wille zur Macht“ aus dem Ursprung des Ressentiments. Sie selbst sind nur die „Galionsfiguren“ einer politischen Strömung, die auf die politische „Mitte“ zu- und einströmt — meist in der Maske des sich aufopfernden „pater patriae“, jenes Übervaters, der um die Sorgen und Ängste seiner Kinder weiß, und alle erdenklichen Anstrengungen unternehmen wird, damit seine Kinder sicher und Sorgen-frei zu leben vermögen. Aber eben nur: als unmündige Kinder…— Die „Köpfe“ selbst sind nicht die Ursache noch der Ursprung ihrer eigenen „Bewegung“. Es ist vielmehr die permanente Angst, Unsicherheit und Ohnmacht in den Menschen, die jählings umschlägt in Aggression, in unvorstellbare Grausamkeit, in brutale Gewalt-Exzesse. Der Mensch des Ressentiments war immer schon beides: ängstlich-ohnmächtiger Biedermann, devot, obrigkeitsgläubig, der geborene „Radfahrer“ — und zugleich auch der gewaltbereite Brandstifter, akribisch, pedantisch, ein „Buchhalter des Grauens“ wie auch bereitwilliger „Vollstrecker“…—
Demokratie perdue? Ja, sofern sich die verantwortlichen Politiker weiterhin zu willfährigen Marionetten transnationaler Konzerne umfunktionieren lassen und solange sie ihre eigentliche Funktion — d.i. Schaden vom Volk abzuwenden, mithin stetig umfassendere Verarmung und Verelendung der Bevölkerung — gemäß ihres politischen Auftrages („Mandat“) nicht mehr oder stets ungenügender nachkommen. Es ist nicht die „Globalisierung“ per se, die die oben genannten Emotionen schürt. Es ist vielmehr der politische Wille der Macht, der die Armen bewusst von der Teilhabe an den exorbitanten Gewinnen dieser Ökonomie ausgrenzt — und gleichzeitig die Profiteure dieser Wirtschafts-Form zum Beispiel über (Steuer-)Gesetze protegiert. Es ist die bereits herrschende Kluft zwischen „Arm“ und „Reich“, es ist die ständige Drohung des sozialen Absturzes ins ökonomisch-gesellschaftliche Bodenlose (z.B. durch „Arbeitsplatzverlust“, „Minijobs“, u.v.a.m.), es ist der ständig mittels Globalisierung sich ausbreitende Wucher einer deregulierten Wirtschafts-Waren-Welt (vgl. u.a. die realexistierenden Mieten versus dem Euphemismus der sog. „Mietpreisbremse“…), die nicht nur die politische Form der Demokratie, sondern auch ihre faktische Realität in-Frage-stellen. Und der politische Biedermann schluckt solange seine Angst und Ohnmacht hinunter, bis ihm ein Populist die Chance eröffnet, seine Ressentiment-Alpträume allgemeine Realität werden zu lassen. Völlig legal — unter einem neuen Gesetz. Jenem der Bespitzelung, jenem der Denunziation, jenem der allgemeinen „Hexenjagd“ auf kritische, investigative Reporter / Medien, auf unabhängige Richter und Anwälte, ja selbst auf Militärs, innerhalb einer demokratisch gewählten: Diktatur.