Diotima reloaded
26.03.2017
In seinem Dialog „Symposion“ beschreibt Platon (428 – 348 v. Chr.) in literarischer Form ein antikes Gastmahl, bei dem die Zechenden reihum den griechischen Gott erós loben, preisen und rühmen sollen. Sie tun dies — nach Platon — gemäß ihres eigenen Charakters: mal überschwenglich leidenschaftlich, mal trocken naturwissenschaftlich, mal prunkvoll pompös. Das ist die literarische Rahmenhandlung. In diese eingebettet hebt sodann der eigentlich philosophische Dialog, der sog. „Diotima Dialog“ (210 A – 212 A) an. Diotima ist eine Priesterin aus Mantineia, Arkadien, die Sokrates, „den weisesten der Athener“, nicht nur in die Mysterien des erós einweiht, sondern ihn, Sokrates, im lebendigen Dailog das Wesen des erós darlegt: das menschliche Streben nach wahrhaft Schönem. Im lebendigen Zwiegespräch wird Sokrates selbst durch Diotima auf dem Weg des erós geführt und vermag dessen Wesen, soweit es ihm nur möglich sein wird, zu erkennen: zunächst führt Diotimas Weg-Weisung durch die Ebenen des körperlichen Schönen, sodann zum Schönen der Seele, woraus eine schöne Lebensführung wie Sitte und Gesetz entstehen, danach geht dieses Streben zu den „schönen Erkenntnissen“ und man vermag das Schöne in seiner Vielheit zu erkennen (Platon nennt dies „das weite Meer des Schönen“), all dies geschieht noch immer auf der Ebene des irdisch-menschlichen Schönen. Zuletzt jedoch gilt es den Aufstieg und den Durchstieg zum Wesen der Schönheit, zum „wahren Schönen“, dem Schönen an sich zu vollziehen. Es gilt, das „Göttliche Schöne in seiner Eingestalt“ zu schauen. Denn erst dort umarmt der vom erós ergriffene Aufstrebende „wahre Tugend, weil er das Wahre umarmt“. Als philósophos strebt der Mensch zeitlebens nach der Schau und der Erkenntnis des Schönen – und Wahren an-sich. Während die Götter von Natur aus sich im Besitz dieser Wahrheit befinden und „sophós“ sind. Ein Mensch jedoch, der aus „wahrer Tugend“ heraus lebt und strebt, dem ist es vergönnt, ein Götter-Freund zu werden und der darf, wenn überhaupt ein Mensch, unsterblich sein. So die Quintessenz des Diotima-Dialoges innerhalb der Rahmenerzählung des Symposion-Dialoges.
Bemerkenswert mag folgendes sein: Platon lässt durch eine weise Priesterin den weisen Sokrates belehren. Sicherlich ein Affront in einer von Männern dominierten Philosophen-Gesellschaft. Und mehr noch: Platon überlässt es Diotima, den eigentlichen Weg aus den Mysterien hinüber in die Welt der Ideen zu weisen. Während also Diotima mit der „Schau“ des Göttlichen vertraut ist, deutet sie Sokrates den Weg voraus in die Zukunft des „Logós“. Und was bislang in der Menschheits-Geschichte mythisch-mystisch verstanden wurde (all die Theogonien, die Orphik, u.v.a.m.), das wird nunmehr für den Horizont des Logós eröffnet. Die Wegscheide der Menschheit, die sich hinter dem geflügelten Wort „vom Mythós zum Logós“ verbirgt, hier, an dieser Stelle des Diotima-Dialoges, wird sie benannt und für spätere Zeiten und Philosophie-Epochen kenntlich gemacht. Es sind nur wenige Zeilen, die jedoch maßgebend das Denken und Erkennen der Menschheit verändert haben. Die platonische Vorstellung eines „Ideen-Himmels“, einer „Wahrheit an-sich“, als eine Wirklichkeit, die völlig autark und losgelöst vom Menschen Bestand hat und Bestand ist, wird erst 2.500 Jahre später durch „moderne Philosophen“ wie etwa Karl Jaspers (vgl. „Von der Wahrheit“) abgelöst werden. Zwar holte bereits Platons Schüler Aristoteles mit seiner Formulierung der „veritas est adaequatio intellectus et rei“ die Wahrheit sozusagen „aus dem Ideen-Himmel auf die Erde“ nieder. Aber beide Wahrheits-Vorstellungen blieben doch durch die Zeiten hindurch nebeneinander fortbestehen. Erst dem methodisch-methodologischen Bewusstsein eines Karl Jaspers gelang es, die alten Vorstellungen der Metaphysik wie auch der Ontologie mit seiner „Chiffrenschrift“ wie er es fomuliert „in die Schwebe“ zu bringen. Das aber bedeutete für Platons „Ideen-Himmel“: „…wir haben die Naivität verloren“ (vgl. Karl Jaspers, Philosophie III, „Metaphysik“, S. 160).
Doch retour zum Diotima-Dialog.
Eingangs des Dialoges lenkt Platon-Diotima den Blick und die Achtsamkeit des Lesenden auf die Frage, wonach denn „die Liebe von Natur aus strebt“. Anders gesagt: Was ist im Bereich des Sterblichen das Unsterbliche? Denn sowohl Tiere als auch Menschen streben nach demselben Prinzip nach Unsterblichkeit. Beiden gemeinsam ist die eine und einzige Weise „der Geburt aus einem Anderen“. Denn stets lässt das Ältere, das Sich-Verändernde, das Vergängliche, das Dahin-Schwindende, kurz: das Sterbliche, eines seiner Art im Leben zurück und wird auf diese Weise erhalten. Im Bereich des biologischen Lebens aus Werden und Vergehen ist es das Prinzip der Geburt, wordurch alles Sterbliche am Unsterblichen Anteil erhält. Das Göttliche, so Platon, jedoch durch ein anderes.
Verweilen wir für einen kurzen Augenblick bei diesem Aspekt der Geburt. Anders als die physis, die sich selbst her-vor-bringt und darin keinerlei Abweichung zulässt (die Rose ist eine Rose, ist eine Rose…), ist es in der Natur (vgl. lat. nascio), deren Lebens- und Erhaltungs-Prizip die Geburt aus einem Anderen ist, gerade unmöglich, dass das Jüngere identisch mit dem es hervorbringenden Älteren ist. Das Junge im Tierreich und das Kind der Menschen hat nicht nur seinen Ursprung in einem Anderen, nämlich in der Mutter, sondern ist auch ein Anderes (als die Mutter). Und selbst eineiige Zwillinge unterscheiden sich zueinander. Ist dies schon erstaunlich genug, so wird eine andere Tatsache noch erstaunlicher: Seit Anbeginn alles Entstehens und Werdens muss es eine ununterbrochene und direkte Lebens-Linie zu all jenen Lebe-Wesen geben, die heute im Leben „da“ sind. Die Bedingung der Möglichkeit, dass ich heute da sein kann, lag einstmals in einem anderen Leben. Und dass ich „Individuum“, also einmalig, sein kann, das schulde ich, genau genommen, allen Generationen, die vor mir waren. Eine ununterbrochene Abfolge von Leben, von Entstehen und Werden und wieder Vergehen, die zurückreicht vor die Entstehung dieser Welt, dieser Galaxie, dieses Universums. Soviel Grandiosität für ein so unscheinbares Leben…— Wie entfalten wir uns? Was geben wir „der Natur“, den Mit-Menschen als unsere „Kostbarkeit“, als unser „Geschenk ans Leben“ zurück…—?