Bernhard Ruppert
Johannes Chwalek
Die Sonne hat die Breite des menschliches Fußes
Rundgänge mit Heraklit, Teil 5
III, Westseite:
GÄRTNER(liest mit Betonungen): „Wenn er’s nicht erhofft, wird er das Unverhoffte nicht finden. Denn sonst ist’s unerforschlich und unzugänglich.“ – Was sagst du zu diesem Spiel mit Verneinungen? Es ist, als ob Heraklit mit mathematischer Präzision aus „minus mal minus“ ein Plus herausrechnen würde. Aus dem Unverhofften das Erhoffte, aus der Nacht den Tag, aus dem Chaos das Gesetz.
ICH: Wenn er’s nicht erhofft – was? Das Unverhoffte, das einem „zufällig“ Zufallende, nicht aktiv Gesuchte…
GÄRTNER: Den Zu-Fall, wie es Heidegger irgendwo nennt…
ICH: Gibt es so etwas wie das Unverhoffte, oder richtet sich unser Hoffen nicht immer schon auf ein Bestimmtes und damit per se auch schon Erhofftes?
GÄRTNER: Ich frage mal weiter: Gibt es im Fluss der Wirklichkeit und der Gedanken tatsächlich ein Unverhofftes, oder ist es vielmehr so, dass unsere Ratio nur nicht die gesamte Kette der Ursachen, Wirkungen und wieder Ursachen zu durchschauen vermag? Unsere philosophischen und naturwissenschaftlichen Modelle mögen stets stringent sein, seien es die Systeme von Hegel oder Schopenhauer, die Urknall-Theorie in der Astronomie oder die Urmutter-Theorie in der Genetik – ob das komplexe Zusammenspiel von Haupt- und Nebenwirkungen sich von unserer „Stringenz“ fassen lässt, muss dahingestellt bleiben.
ICH: Da höre ich einen Zweifel heraus…
GÄRTNER: Bei den freiverkäuflichen Medikamenten, den sog. „OTC“, „over the counter“, weist jedes einzelne Präparat keinerlei Nebenwirkungen auf, aber vier oder zehn von diesen Pillen weisen auf einmal einen Faktor 10 oder 20 an Nebenwirkungen auf. Jährlich sterben mehr Menschen in Krankenhäusern an toxischer Fehl-Medikation als im Straßenverkehr… Oder denke in der Genetik an die „Urmutter-Theorie“ aus der Olduvai-Schlucht im Ostafrikanischen Grabenbruch. Was ist, wenn die Menschen aus heterogenen Linien der Primaten entstanden sind…?
ICH: Du willst sagen, dass unser Verstand immer wieder von der Vielzahl der realen wie auch möglichen Faktoren und Kon-Faktoren überfordert ist?
GÄRTNER: Richtig, vom komplexen Zusammenspiel von Haupt- und Nebenwirkungen, woraus Haupt- und Nebenursachen resultieren. Und eine Nebenwirkung kann unter einem anderen Aspekt als Hauptwirkung gelten. – Aber wie verstehst du Heraklits Zitat?
ICH: Wie wäre es, die Ausgesetztheit des Menschen, seine Unbehaustheit, wie du vorhin sagtest, als von Gott oder den Göttern verfügt zu denken – und zwar ohne den Menschen durch das Konstrukt der Erbsünde dafür verantwortlich zu machen? Vorausgesetzt unser modernes Denken trügt uns nicht, dann ist die Freiheit des Menschen im Sinne seiner Unbestimmtheit sein Schicksal – das er zu gestalten hat.
GÄRTNER: Wie bringst du das mit dem Heraklit-Zitat zusammen? Worin besteht für dich das „Unverhoffte“?
ICH: Im Bemühen des Menschen, dessen einziges Recht auf Antwort im eigenen Antwortsuchen liegt, denn jede äußere Antwort in Form von Gesetzen oder Konventionen kann in Frage gestellt werden. Sobald dieser Prozess des Antwortsuchens beginnt, kehren sich die Vorzeichen von „unerforschlich“ und „unzugänglich“ um.
GÄRTNER: Bleibt die Frage nach der moralischen Qualität des Bemühens sowie der „Größe“ der Antwort, die erhofft werden kann. Das „Unverhoffte“ klingt jedenfalls nicht nach Alltäglichem, oder?
ICH: Das Alltägliche ist die Gedankenlosigkeit. Wer sich herauswagt aus den vermeintlichen Sicherheiten des Hergebrachten, kann dem Unverhofften begegnen.