Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes, Teil 4


Bernhard Ruppert

Johannes Chwalek

 

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes

Rundgänge mit Heraklit, Teil 4

 

II, Südseite:

 

ICH: Vor ein paar Tagen hat mich der Prä gefragt, ob Heraklit den Satz mit Sonne und Fuß wörtlich verstanden habe.

GÄRTNER: Was hast du ihm geantwortet?

ICH: Dass ich es nicht wisse und mich mit dem Gesamtdenken Heraklits nicht auskenne.

GÄRTNER: „Vor ein paar Tagen“ – und heute? Hast du etwas dazugelernt?

ICH: Zumindest habe ich in der Zwischenzeit Hegels Vorlesung über Heraklit gelesen. Hegel sagt klar, dass Heraklit der sinnlichen Wahrnehmung misstraue, wenn sie von einer barbarischen Seele gemacht werde. Nur die Vernunft, und zwar die göttliche und allgemeine, sei die Richterin der Wahrheit.

GÄRTNER: …was eine barbarische Seele nicht erkennt, weil sie über den Au­genschein nicht hinauskommt. Sonst noch etwas?

ICH: Das Wahre ist für Heraklit das Werden, nicht das Sein – das es für Heraklit gibt und nicht gibt, weil es dem Prozess unterworfen ist; nicht irgendeinem Pro­zess, sondern dem, der in ihm liegt. Nichts ist das „Sichselbstgleiche“, formuliert Hegel, überall vollzieht sich der Wandel aus Entzweiung und In-Eins-Gehen, ein Weg nach unten, hodos kato, und ein Weg nach oben, hodos ano.

GÄRTNER: Vielleicht ein zu einfaches Schema. Gibt es keine Siege mehr im Ab­stieg, keine Niederlagen im Aufstieg? Aber sprich nur weiter!

ICH: Hegel geht auch von dem „Einen“ aus, aus dem sich die Dualitäten entfal­ten, weshalb sie vielleicht nie ganz die Verwandtschaft mit ihrem „Gegenteil“ ver­lieren können. Außerdem spricht er – im Gegensatz zu dir – von der Nähe Hera­klits zu seiner, Hegels eigener Zeit um 1800, also wohl auch noch zu unserer Gegenwart. Seine Begründung hierfür habe ich aber leider wieder vergessen.

GÄRTNER: Durch die Jahrtausende gibt es „anthropologische Konstanten“, Hass, Neid, Missgunst oder eben „Egoismus“ auf der „negativen Seite“ unseres Mensch-Seins. Aber die menschliche Struktur ist ambivalent, dem Hass können wir die Liebe, dem Neid das Gönnen, der Missgunst das Wohl-Wollen und dem Egoismus vielleicht den Altruismus und Humanismus gegenüber stellen. Viel­leicht meint Hegel das mit der Nähe zwischen Heraklits und seiner, respektive unserer Zeit.

ICH: Aber darum geht es dir nicht?

GÄRTNER: Nein, mir geht es um Heraklits Art zu „denken“, was er denkt und wie er dieses „Was“ betrachtend denkt. Und da liegen wohl „Welten“ zwischen dem „alten“ vor-rational-fixierten und dem „modernen“ (an die Ratio gebundenen) Denken. Wir haben auf der Ostseite schon davon gesprochen.

ICH: Von unsrem Ausgangszitat auf der Südseite sind wir abgekommen. „Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes.“ Wie versteht Heraklit diesen Satz nach deiner Meinung?

GÄRTNER: Vielleicht als „Stand-Punkt“, der über alles Relationale entscheidet? Als verborgene Parallel-Stellung von Mensch – im Kosmos und als Mikro-Kos­mos – und Zentralgestirn? Oder als versteckte Anspielung auf den „homo men­sura“-Satz des Protagoras, dass der Mensch der Hervorbringer aller Werte sei, bis hin zum Seienden und Nicht-Seienden der Dinge? Vielleicht wollte Heraklit mit seinem Ausspruch aber auch nur eine gezielte Paradoxie gegen die Empirie oder den Relativismus des Protagoras erheben.

ICH: Zusammenhänge mit Protagoras erkenne ich durchaus, etwa wenn Prota­goras sagt, er wisse von den Göttern nicht, ob sie seien oder nicht seien, die Sa­che sei dunkel, das Leben reiche zu dieser Erkenntnis nicht aus. Das drückt Be­scheidenheit aus, der Mensch begibt sich in das ihm zukommende Maß und strebt nicht darüber hinaus. Das dem Menschen zukommende Maß aber besteht im Subjektivismus und Relativismus, die wiederum bedingt sind durch die Er­kenntnis, dass alles fließt im dauernden Prozess des Werdens und Vergehens.

GÄRTNER: Dem kann ich folgen. Wir erkennen die Dinge nicht so, wie sie für sich sind, sondern nur so, wie sie in Beziehung zu uns sind, wie sie uns erschei­nen. Das hat zur Konsequenz, dass es keine absolute, objektive Wahrheit gibt, sondern so viele Wahrheiten wie individuelle Auffassungsweisen. Allgemeingül­tige Wahrheit gibt es für Protagoras nur, wenn die Individuen miteinander in ihren Urteilen übereinstimmen. Was den Fuß betrifft, mit dem man die Sonne verde­cken, oder halbwegs verdecken kann, müsste es sich dann ja auch um eine all­gemeingültige Wahrheit handeln, oder?

ICH: Ja, immerhin mehr als bloßes subjektives Meinen…

GÄRTNER: Aber noch kein gesichertes Wissen. Übrigens: Würden wir die Sonne nicht eher mit der Hand – also dem „Vorderlauf“ – abdecken, als mit unserem Fuß, dem „Hinterlauf“? Selbst Heraklit hätte sich hinlegen müssen, um dieses Kunststück der „Abdeckung“ bewerkstelligen zu können.

 

 

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