Apfelkuchen für die Seele, Leseprobe


Apfelkuchen für die Seele

Leseprobe

von Gabriela Zander-Schneider

Köln

Sonja stand in der total überfüllten Straßenbahn. Die Menschen drängelten und schoben, wollten unbedingt mitfahren, keinen Moment versäumen, um an diesem trostlosen Freitagnachmittag den Arbeitsalltag hinter sich zu lassen und den Vergnügungen des Wochenendes entgegenzuhetzen. Feierabendchaos.

Die Luft war zum Schneiden dick. Der Blick nach draußen war durch die beschlagenen Fensterscheiben nicht möglich. Bei jedem Halt wehte ein Hauch frischer, regenfeuchter Luft durch die geöffnete Tür, den Sonja tief einsog. Bis zur nächsten Haltestelle versuchte sie durch eine möglichst flache Atmung so wenig wie möglich von der üblen Geruchsmischung einzuatmen, um die aufsteigende Übelkeit nicht zu verstärken.

Es war spät geworden. Wieder einmal. Sonja hatte wie üblich als Letzte das Büro verlassen. Die restliche Belegschaft der Kölner Anwaltskanzlei war bereits am frühen Nachmittag ins Wochenende gestartet. Nicht ohne ihr jedoch vorher einen Stapel unerledigter Arbeiten zu hinterlassen. Gern hätte sie um 16 Uhr Schlussgemacht. Jede Stunde, die sie länger in der verhassten Kanzlei arbeiten musste, wurde zur Qual. Immer häufiger zählte sie die Stunden bis zum Feierabend, die Tage bis zum Wochenende.

Seit etwa drei Jahren arbeitete sie als Anwaltsgehilfin in der Kölner Notar- und Anwaltskanzlei, die sich hauptsächlich auf Erbrecht, Vermögensverwaltung und gewinnträchtige Scheidungsverfahren spezialisiert hatte. Mit ihr arbeiteten zwei Anwälte bzw. Notare, Martin Alexander Schöne und Dr. Friedhelm Sommer, sowie ihre Kollegin Felicia Kötter in einer alten Villa in einem noblen Kölner Stadtteil. Das große Haus war von der Straße aus nicht zu sehen. Eine hohe Mauer schützte das Parkgrundstück vor unerwünschten Blicken. Damit die betuchte Kundschaft unbehelligt blieb, schloss sich das schwere Tor der Einfahrt unmittelbar nach dem Passieren der Nobelkarossen. Im ersten Stock des Hauses befand sich das Schreibbüro. Auf 200 qm arbeiteten insgesamt neun Schreibkräfte. Sie waren tagtäglich damit beschäftigt, nach Diktat zu schreiben, die anfallenden Dokumente vorzubereiten, zusammenzuheften, zu siegeln und postfertig zu machen. Das Klicken der Tastaturen und Rattern der Drucker auf dieser Etage erinnerte Sonja an die Gelddruckerei der Deutschen Bundesbank, was sicherlich im übertragenen Sinne auch der Fall war.

Zum gewachsenen festen Kundenstamm zählten nicht nur ein Großteil des Kölner Geldadels, sondern zahlreiche Großunternehmer, einige sehr erfolgreiche Künstler und nicht weniger zahlreiche Erben riesiger Vermögen. Dementsprechend war das Publikum. Überwiegend aufgeblasen, überheblich, rücksichtslos und selbstverliebt. Bis auf wenige Ausnahmen vorwiegend Klienten, die das Glück hatten, mit dem richtigen Namen geboren worden zu sein. Die oftmals keiner geregelten Arbeit oder sinnvollen Beschäftigung nachgingen, immer auf der Jagd nach den neuesten Trends, den angesagtesten Clubs und den exklusivsten Ferienorten auf der ganzen Welt. Dabei sein, jung sein – auch wenn das tatsächliche Alter sich beim bestem Willen nicht mehr verleugnen ließ. Sich profilieren und angeben mit Vermögenswerten, für die sie selbst keinen Finger krumm gemacht hatten. Immer auf der Flucht vor der drohenden Langeweile oder der Angst, übersehen zu werden. Nicht zu vergessen, die zumeist blond gefärbten, vom Schönheitschirurgen optisch dem neusten Modetrend angepassten Damen, die sich erfolgreich durch eine bzw. mehrere Hochzeiten mit vermögenden älteren Herren in eine wohlhabende Position manövriert hatten. So künstlich wie ihr Aussehen war auch ihr Auftreten. Dumm, überheblich, rücksichtslos und arrogant.

Eine Welt, die Sonja fremd war und mit der sie nichts anzufangen wusste. Daneben gab es die Klienten, die in abgedunkelten Limousinen chauffiert wurden, maßgeschneiderte Anzüge trugen, perfekte Umgangsformen beherrschten, mit schwarzem Aktenkoffer dezent und höflich die Kanzlei betraten, eine leise Unterredung mit den beiden Anwälten führten und anschließend wieder in ihren Limousinen davonfuhren. Geräuschlos, unauffällig und doch irgendwie unseriös. Sonja wurde das Gefühl nicht los, dass dabei kriminelle Geschäfte auf besonders hohem Niveau abgewickelt wurden. Entsprechende Akten, die normalerweise für jeden Mandanten angelegt wurden, hatte Sonja in den vergangenen drei Jahren nie zu Gesicht bekommen. Sie vermutete, dass diese, soweit überhaupt vorhanden, direkt wieder in dem großen Safe im Büro von Dr. Sommer verschwanden.Wohltuend hingegen war der Umgang mit den Mandanten des sogenannten alten Geldadels. Entweder waren sie tatsächlich adelig oder stammten aus Familiendynastien, die seit Generationen das Familienvermögen umsichtig bewahrt und vermehrt hatten. Sie hatten es nicht nötig zu protzen, waren freundlich, ruhig, höflich und zuvorkommend. Mit einem ausgeprägten Sinn für gepflegte Umgangsformen. Sie behandelten andere Menschen mit dem nötigen Respekt, ohne zuvor deren gesellschaftlichen Status zu überprüfen. Der eine oder andere brachte Sonja schon mal kleine Aufmerksamkeiten in Form von erlesenen Pralinen, Duftbädern oder zauberhaften Blumensträußen mit. Luxusartikel, die sie sich selbst als einfache Anwaltsgehilfin nicht erlauben konnte. Eine freundliche, formvollendete Plauderei rundete diese Begegnungen meist ab. Dies waren die wenigen erfreulichen Momente in der Kanzlei. Momente, in denen sie die seltene Wertschätzung, die ihr entgegengebracht wurde, sehr genoss.

Für beide Anwälte war das Geldscheffeln das zentrale Lebensthema. Rücksichtslos und berechnend verfolgten sie das Ziel, die üppigen Einnahmen Monat für Monat zu steigern. Menschliche oder gar herzliche Regungen konnte Sonja auch nach all den Jahren bei ihnen nicht feststellen.

Martin Alexander Schöne, der jüngere der beiden Anwälte, neununddreißig Jahre alt, gut aussehend, war verheiratet mit Elvira, der Tochter seines Vorgängers Karl Maria Vonhausen, der aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war. Was also lag näher, als die Nachfolge seines Schwiegervaters in der Kanzlei anzutreten? Elvira war weiß Gott nicht seine Traumfrau, aber die Mitgift war beachtlich. Dass er nur mit Ach und Krach durchs Staatsexamen gekommen war, spielte keine Rolle mehr. Als Mitinhaber und gleichwertiger Partner von Dr. Sommer in eine der erfolgreichsten Kanzleien Deutschlands einzusteigen, dafür nahm er auch die Heirat mit Elvira in Kauf. Ohne große Anstrengung setzte er sich in ein erstklassig vorbereitetes, luxuriös gemachtes Nest, was ihm aus eigener Kraft nie gelungen wäre. Außer der Villa, in der sich die Kanzlei befand,besaßen die beiden Partner noch einige andere Ertrag bringende Anlageobjekte. Sein Schwiegervater hatte sie ihm ebenfalls übertragen. Zu Martin Alexander Schönes hervorstechenden Charaktereigenschaften zählten sein Egoismus und sein rücksichtsloses Handeln. In seinem Vorgehen, möglichst schnell noch mehr Kapital zu erlangen, war ihm fast jedes Mittel recht. Sein mieser Charakter schenkte ihm trotz aller üblen Machenschaften stets ein ruhiges Gewissen. Ob er beispielsweise jemanden geschickt in den Ruin trieb, die Situation ausnutzte und dessen Immobilienbesitz günstig erwarb oder mit anderen, nicht immer durchsichtigen Geschäften sein Vermögen vermehrte, bescherte ihm Zufriedenheit. Das Schicksal der Menschen, die dabei auf der Strecke blieben, berührte ihn nicht. „Was geht mich fremdes Elend an?“, war einer seiner bevorzugten Sprüche. Während Sonja solche Aussagen zutiefst verabscheute, lachte ihre Kollegin Frau Kötter meist zustimmend.

Sonja erinnerte sich noch genau an einen Tag im Frühsommer des vorangegangenen Jahres. Rechtsanwalt Schöne hatte vormittags an einem Zwangsversteigerungstermin am Amtsgericht Köln teilgenommen und betrat gegen Mittag, sichtlich mit sich selbst zufrieden, die Kanzlei. Erfolgreich hatte er ein großes Haus mit dazugehörigem Ladenlokal ersteigert. Einst ein bekanntes Kölner Delikatessengeschäft. Schon seit Jahren war das Geschäftslokal an einen Modeladen vermietet. Die alten Haus- und Ladenbesitzer hatten aufgeben müssen, als sie ihre wöchentlichen Kunden an einer Hand abzählen konnten. Mit den Mieteinnahmen aus der Boutique und einer kleinen Dachgeschosswohnung kamen sie gerade noch so über die Runden. Als die Frau immer hinfälliger wurde, mussten für die häusliche Pflege einige Umbaumaßnahmen durchgeführt werden. Das Geld hierzu gab eine ortsansässige Bank großzügig als Darlehen. Die Immobilie war zwar renovierungsbedürftig, befand sich jedoch in einer hervorragenden Lage. Dass die alten Leute die finanzielle Belastung kaum stemmen konnten, schien unter dieser Voraussetzung keine Rolle zu spielen. Als der Inhaber des Modeladens die Miete nicht mehr regelmäßig zahlte und die Kosten für die Pflege seiner Frau immer mehr wurden, war die Bank schnell dabei, die säumigen Zahlungen durch eine Zwangsversteigerung abzudecken. Zufälligerweise spielte der Leiter der Darlehensabteilung im gleichen Tennisclub wie Rechtsanwalt Schöne, wo man sich nach erfolgreichem Match gerne mal den einen oder anderen geschäftlichen Hinweis zuspielte. Fortsetzung folgt

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