Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes, Teil 1


Johannes Chwalek

Bernhard Ruppert

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes

Rundgänge mit Heraklit

 

*

Erster Teil

 

I

 

Der Weg ums Internat – kann er nicht zum Philosophen-Rundgang werden?

 

Sommerabend. Viele Kameraden sind draußen, spielen Faustball (ich höre ihre atemlosen Rufe auf der Nordseite), schlendern umher oder sitzen auf Bänken (das vermute ich auf der West- und Nordseite, weil es jeden Abend so ist, der den Aufenthalt im Freien gestattet). Hier an der Ostseite befindet sich die Haupt­pforte, deren Treppenstufen ich hinuntergehe. Linker Hand der kleine Bergweg zur Nordseite, rechter Hand die im rechten Winkel zum Konvikt gebaute Kapelle.

 

Ich trage vier Zettel mit mir. Auf jedem steht ein Wort des Philosophen Heraklit. Wenn nun diese Worte auf Transparenten stünden und ich sie aufstellte um das Konvikt herum, auf jeder Seite eines? Ich nähme das erste Transparent und steckte es an zwei Stangen in den Boden (unterhalb des Bürofensters des Rek­tors, der mich nicht zur Rede stellen wird!), wäre zufrieden, dass ich der trocke­nen Erde Halt abgezwungen hätte, stellte mich davor und würde den Gedanken noch einmal lesen:

 

Drum ist’s Pflicht dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon das Weltgesetz allen gemein ist, leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hät­ten.

 

Unser Zusammenleben im Konvikt (lat. „convictus“ = „gemeinschaftliches Leben“) bringt vielfältige Verpflichtungen mit sich: den geregelten Tagesablauf einzuhal­ten, sich ein- und unterzuordnen. Natürlich beklagen sich viele darüber, hätten gerne mehr Freiheiten, andererseits weiß ich von manchem, der zu Hause un­günstige Verhältnisse hat, dass ihn das Konvikt aufleben lässt. Eine funktionie­rende Gemeinschaft, mit allem Nötigen versorgt, gut organisiert, bietet dem Ein­zelnen Halt, lässt Kinder und Jugendliche heranwachsen. Später müssen wir uns selbst die Pflichten auferlegen, die uns das familiäre und gesellschaftliche Leben sichern. Aber tun wir es auch gern? Legen wir uns die Pflichten aus innerem An­trieb auf oder nur aus Angst vor sozialer Ausgrenzung? Wenn ich den Reden der Kameraden lausche, mich selbst betrachte, erwarten wir uns eine glanzvolle Zu­kunft, wo unsere Handlungen die Wege ebnen zum Erfolg. Dass es Brüche gibt, unerwartete und gewaltige, können wir nachlesen in Literatur und Philosophie. Aber die meisten Kameraden glauben es nicht oder besser gesagt: denken nicht darüber nach.

 

… leben die meisten doch so, als ob sie eine eigene Einsicht hätten.

 

Leben die meisten nach der eigenen Einsicht, weil sie gar nicht wissen, was das Gemeinsame bedeutet, ob es überhaupt existiert? Suchen wir gar nicht nach dem, was uns eint? Die eigene Einsicht ist unser unmittelbares Instrumentarium, um uns zurechtzufinden in der Welt. Heraklit fordert, sich an ein Höheres anzu­schließen, das er „Weltgesetz“ nennt. Ich kann nicht sagen, was er damit meint. Nur die Ahnung beschäftigt mich, dass es mehr sein müsste als die Sicherung des eigenen Vorteils.

 

II

 

Der Weg an der kleinen Pforte und Kapelle ist abgeschieden. Von hier aus ge­langt man nicht „ins Weite“ der Straßenkreuzung auf der Westseite oder zu den Spiel- und Freizeitplätzen auf der Nordseite. Auch die Bedeutung der Ostseite mit der Hauptpforte, die jeder von uns in der Regel mehrmals täglich passiert, ist hier nicht vorhanden. Der Weg verläuft abschüssig am Konvikt und dem Zaun ent­lang, hinter dem die Kirchbergstraße liegt, eine kleine, ebenfalls abschüssige Verbindungsstraße zwischen den beiden großen Stadtadern Wilhelmstraße und Darmstädter Straße. Aber diese kleine Oase der Ruhe[1], wenn man so will, ist mir recht. Hier, an der Südseite des Konvikts, soll ein Transparent stehen mit der Aufschrift:

 

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes.

 

Jemand kommt aus der kleinen Pforte heraus! Es ist der Präfekt, kurz Prä ge­nannt (der Haupterzieher nach dem Rektor), der mich bestimmt gleich anspre…

 

PRÄ: Ah, Jeannot! Du gehst spazieren? (Mit Blick auf die Zettel in meiner Hand.) Lernst du noch Vokabeln?

ICH: Nein, Vokabeln sind das nicht. (Er schaut mich freundlich-fragend an.) Ich habe mir hier ein paar Aussprüche von Heraklit notiert.

PRÄ: Das ist ja interessant! Darf ich mal sehen? (Liest: „Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes.“) Ein bisschen breiter ist sie schon, nicht?

ICH: Mit einem Fuß kann man sie verdecken, da hat Heraklit recht.

Prä: Hat er es so gemeint?

ICH: Vielleicht; ich kenne mich mit seinem Gesamtdenken, und wie man es ein­schätzen kann, gar nicht aus.

PRÄ: Wo hast du die Aussprüche her?

ICH: Aus der Konvikts-Bibliothek; ein altes Buch, herausgegeben von Hermann Diels im Jahr 1903…

PRÄ (nickt): Du hast die Fragmente gelesen und aufgeschrieben, was dich be­sonders angesprochen hat?

ICH: Ja.

PRÄ: Und damit spazierst du jetzt philosophierend um das Konvikt herum – das nenne ich einen Einfall!

ICH: Unsicher bin ich mir schon.

PRÄ: Worüber?

ICH: Dass ich Heraklits Aussprüche zu naiv betrachte, ohne Professionalität.

PRÄ: Für den Anfang kann Naivität auch ein Vorteil sein.

ICH: In welchem Sinn?

PRÄ: Etwa im Sinne von Unvoreingenommenheit durch wissenschaftliche Doktri­nen.

ICH: Ganz unvoreingenommen bin ich nicht.

PRÄ: Weil du hie und da schon etwas über Heraklit gehört hast?

ICH: Ja, ein bisschen schon…

PRÄ: Das versteht sich. In dem Moment, in dem du in der Konviktsbibliothek nach einem Band über Heraklit greifst, ist dein Geist schon lange kein unbe­schriebenes Blatt mehr. Also geh nur weiter auf deinem Weg! Wenn du magst, kannst du mir bei Gelegenheit davon erzählen.

ICH (schnell): Sehr gerne!

PRÄ (schon im Gehen): Du kennst doch den Oberprimaner Ludwig Gärtner?

ICH: Ja!

PRÄ: Wenn du ihn triffst, sprich ihn ruhig auf Heraklit und die Philosophie an. Er wird dir eine Menge darüber sagen können. (ab)

 

Natürlich kenne ich Ludwig Gärtner, oder besser gesagt: kenne ihn vom Sehen und habe schon viel von ihm gehört; dass er schlau ist und eine Menge weiß, was unsereiner, auch in späteren Jahren, normalerweise nicht weiß. Und den soll ich ansprechen auf die Philosophie? Wird er sich nicht überlegen fühlen und es mich spüren lassen?

 

Jetzt noch einmal:

 

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes.

 

In einem herkömmlichen Sinn kann man von ihrer Größe, ihrem Volumen, ihrer Strahlkraft usw. sprechen. Was den Menschen und die gesamte belebte Natur der Erde betrifft, hat die Sonne genau die richtige Größe, sie dürfte weder kleiner noch größer sein, beides würde sich fatal, wahrscheinlich sofort tödlich auf alles Leben auswirken. Aber was ist mit der Relation ihrer Größe zu den übrigen Pla­neten des Sonnensystems? Hat die Sonne da immer noch genau die richtige Größe, gemessen an den Gravitationskräften? Offensichtlich! (Ich gehe noch ei­nen Schritt weiter und nähere mich der Westseite.) Aber was ist mit unserer Hei­matgalaxie, der Milchstraße? Spielt die Größe der Sonne (die im Vergleich mit anderen Sternen nur mittleren Umfangs ist) hier auch noch eine spezifische Rolle? Würde es – abgesehen von den Verhältnissen in unserem Planetensys­tem – irgendeine Auswirkung haben, wenn die Sonne bedeutend größer oder kleiner wäre? Ich frage hier nach dem Zusammenhalt von Systemen, also unse­res Planetensystems, unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, wenn sich ein­zelne Komponenten darin verändern, beispielsweise die Größe unseres Zentral­gestirns. Relevante Auswirkungen von Veränderungen innerhalb eines Ord­nungssystems sind abhängig von der Größe der Veränderung – eine Binsen­weisheit! Am Freitag entdeckte ich beim Duschen einen blauen Fleck am Ober­schenkel. Irgendwo muss ich mich gestoßen haben, erinnere mich aber nicht daran. Diese Veränderung hat keine Bedeutung für mich. Ebenso wird es der Milchstraße „egal“ sein, wenn die Sonne größer oder kleiner wird – auch wenn dies für das Leben auf der Erde den Untergang bedeuten würde.

 

Der Prä hat recht, dass Heraklit mit seinem Ausspruch falsch liegt, weil die Sonne schier unendlich größer (oder breiter) ist, als ein menschlicher Fuß. Aber Heraklit hat auch recht, weil ein Mensch ab einem bestimmten Alter die Sonne mit seinem Fuß verdecken kann, auf dass er nicht mehr geblendet wird von ihr.

(wird fortgesetzt)

 

 

[1] Vor nicht einmal einer Woche war die Kirchbergstraße Schauplatz des Seifenkisten-Rennens gewesen, das traditionell zum Abschluss des achttägigen Winzerfestes in hiesiger Gegend durchgeführt wird. 30 selbstgebastelte Rennwagen waren am Start erschienen, eine zünftige Radio-Ansage sorgte für richtige „Renn-Begeisterung“.

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