Lob der Freundschaft
III/III
Wenn mein Freund die Abendaufsicht führte, kam er gerne zu uns ins Zimmer, um irgendeinen Plausch anzufangen. Bei dieser Gelegenheit erzählte er einmal von Stefan George und zitierte aus dem vielleicht bekanntesten Gedicht des Autors: „komm in den totgesagten park und schau: / Der schimmer ferner lächelnder gestade“. Gestenreich führte er die zweite Strophe vor: „Dort nimm das tiefe gelb, das weiche grau“, zeigte mit einer leichten Beugung zu einer Seite „das tiefe gelb“ an und zur andren Seite „das weiche grau“. Wir spürten, wie ergriffen er war von Versen, die wir zum ersten Mal hörten und nicht richtig verstanden. Wie immer in solchen Fällen schwiegen wir, sagten höchstens ein interessiert-zustimmendes „hm“ und nickten mit den Köpfen … Die zweite Erinnerung an George ist dessen Übersetzung des achtzehntes Sonetts von Shakespeare, das mir mein Freund mit der Schreibmaschine auf ein DIN A5-Blatt getippt hatte: „Soll ich vergleichen einem sommertage / Dich der du lieblicher und milder bist“. Andere Übersetzungen des Sonetts kommen an die George-Übertragung nicht heran, was mir erst viele Jahre später klar wurde. Eine gute Übersetzung kann nicht nur handwerklich vorgehen, sie muss „nachdichten“, um sich dem poetischen Gehalt des Originals zu nähern … Neben Abbildungen antiker Figuren hatte mein Freund auch ein gerahmtes Bild von Stefan George in sein Wohnzimmer gehängt; mag sein, dass ich ihn danach fragte … So erfuhr ich, dass George kurz vor seinem Tod Deutschland verlassen habe, um der Vereinnahmung durch das NS-Regime zu entgehen. Über das Werk des Autors sprachen wir nicht; ich hätte es damals auch nicht fassen können. Fast ein Vierteljahrhundert nach dem Tod meines Freundes bekam ich eine digitale Auswahl von Werken deutscher Dichter geschenkt. Nun kann ich mich durch die Gedichtbände Stefan Georges klicken und die feierlich-hymnischen, männerbündisch-priesterlichen Verse lesen.[1] Ist es mir dabei nicht manchmal so, als ob mein längst verstorbener Freund sprechen würde? Amicitia vincit horas.
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Ich erinnere mich einer Meinungsverschiedenheit mit meinem Freund, von der ich bedaure, dass ich sie heute nicht mehr mit ihm diskutieren kann: Es ging dabei um die Verfilmung der „Buddenbrooks“ im Hessischen Rundfunk aus dem Jahr 1978, Regie Hans Peter Wirth. Der Film gefiel ihm nicht; ich dagegen fand ihn großartig und halte ihn bis heute für werkgetreu und geistreich. Die Figur der Klothilde, die zur Fabel vom Verfall einer Familie nichts beiträgt, sondern nur als arme Verwandte der Buddenbrooks an deren Tisch sitzt und unentwegt vor sich hin mampft, wurde im Film weggelassen – mutig und vollkommen einsichtig! Manche Dialogpartien wurden gestrafft, manche Nebenfiguren nur in – ausreichenden – Umrissen gezeichnet. Hinzugefügt wurde das häufige Zeitschlagen der Lübecker Turmuhr, ein Symbol der Vergänglichkeit, welche den Figuren, die in immer neuen Gegenwarten gefangen sind, selten bewusst wird … Aber was war es, was meinem Freund nicht gefiel? Sprach er sich über die Gründe seines Missfallens mir gegenüber aus? Nur einmal äußerte er sich in emotionaler Form, dass ihm die Figur der Konsulin zu theatralisch angelegt sei – mehr habe ich nicht von ihm erfahren. Ich muss mir heute selbst ein Bild machen von den Gründen seiner Ablehnung, und eine Vermutung habe ich: Der Stefan-George-Leser liebte das Heroisch-Aristokratische und konnte nichts anfangen mit Modern-Psychologischem, mit Realistischem oder gar Naturalistischem in der Literatur. Peter Härtlings Hölderlin-Roman, den ich ihm nach meinem Weggang vom Internat auf Kassette sprechen wollte, lehnte er schon nach der ersten Aufnahme ab, weil er die Mundart-Partien – „I woiß“ – verachtete. In einem Brief fragte er mich einmal, was ich von Heinrich Böll halte und fügte hinzu: „Mir bedeutet er nichts.“ Diese Beispiele lassen sich mit „Gegenbeispielen“ versehen: Meine Hermann-Hesse-Lektüre begleitete er in den Internatsjahren kundig und hilfreich, Wolfdietrich Schnurres späte Aufzeichnungen „Der Schattenfotograf“, die ich ihm geschickt hatte, lobte er respektvoll, und nicht zuletzt war derselbe Mann, der Stefan George verehrte, ein Rockmusik-Liebhaber, konnte mit klassischer Musik nichts anfangen und verteidigte vor seinen Altersgenossen die damals bei jungen Männern beliebten langen Haare.
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Ich habe eine „Welt von Gestern“ beschrieben – ohne Personalcomputer und Euro, mit eisernem Vorhang zwischen Ost und West. Wir dachten, dass die gesellschaftlichen Reformen der Brandt-Ära immer weiter gehen würden; das Wort Reform hatte die beinahe umgekehrte Bedeutung wie heute, brachte dem Bürger der alten Bundesrepublik größere Freiheit, mehr Geld und Mitbestimmungsrechte. Das damalige Denken in sozialen Kategorien ist heute abgelöst worden von relativistischen Positionen, die der Ökonomisierung aller Lebensbereiche Vorschub leisten. Politiker werfen Altbewährtes (wie den Humboldt’schen Bildungsbegriff) bedenkenlos über Bord mit dem – früher von denselben Leuten als Gleichmacherei gescholtenen – Argument: Die andern machen´s auch so! Hier heißt es, sich neu zu orientieren und – wenn die Hoffnung es noch hergibt! – Widerstand zu leisten. Aber wie soll der zerstörerischen Kraft schrankenloser Märkte entgegengetreten werden? Wie soll die Herkules-Aufgabe bewältigt werden bei der Disparität globaler Lebensverhältnisse? Das Kapital ist immer einen Schritt voraus, und soziale und ökologische Ambitionen haben das Nachsehen. Außerdem macht sich das Kapital möglichst unangreifbar: Einmal durch das Argument, die Lebensgrundlagen zu liefern, dann durch den Versuch, sich in die Anonymität zu flüchten. Es gibt keinen Dreißiger mehr wie in Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“, vor dessen Haus die empörten Arbeiter ziehen können. Der Kapitalismus verschwimmt im Nebel. Aber wie in Zeiten des Gottesgnadentums die Philosophen in England und Frankreich den Verfassungsstaat vorausgedacht haben, kommt es heute darauf an, alternative Entwürfe auf dem sozialen und ökonomischen Feld zu schaffen, die einer angeblichen „Logik der Märkte“ entgegenstehen. Wem das unrealistisch erscheint, der wünscht vielleicht noch immer, dass „der Markt alles regelt“ oder er hofft darauf, dass die soziale Schere nicht immer weiter auseinander klafft.
Die Diskussion über eine Integration der Zuwanderer vor allem aus dem islamischen Kulturkreis wird heute kontrovers geführt. Die offenbaren Vorteile einer demokratischen Gesellschaft sind neben ökonomischen Gesichtspunkten für viele Zuwanderer Motivation des Aufbruchs aus der Bedrängnis der Heimat gewesen. Wir sollten uns dieser Vorteile bewusst bleiben; sie unterscheiden uns von Gesellschaften, die ihre Regierungen nicht abwählen können. Belehren lassen sollten wir uns hingegen darüber, dass eine vorrangig materielle Lebensauffassung defizitär bleiben muss. Die Errungenschaften von Aufklärung und Moderne können nicht bewahrt werden, wenn alle Lebensbereiche dem wirtschaftlichen Effizienzdenken ausgeliefert werden.
Was die griechisch-römische Antike, Augustinus, Weimarer Klassik, Stefan George und Thomas Mann betrifft: Die neue Generation macht sich ihre eigenen Reime darauf – und wird vielleicht auf Auseinandersetzungen treffen, die wir heute kaum erahnen.
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Oft habe ich das ehemalige Bischöfliche Konvikt in B. aufgesucht. Es ist nach der Schließung 1981 zum Rathaus der Stadt B. umgebaut worden. Vor zwei oder drei Jahren stand ich an einem Frühlingstag vor dem alten Gebäude, sah die erwachende Natur und dachte an meinen Freund, der hier fast 25 Jahre lang, von 1950 bis 1974, seinen Dienst versehen hat.
Blüten überall
und Grün im Saft, als ob wir
nie gewesen wär´n.
[1] Bei der Niederschrift dieser Zeilen wird Stefan George im Zusammenhang mit Missbrauchs-Vorwürfen gegen katholische und andere Einrichtungen genannt; er gilt manchem Kommentator als geistiger Ziehvater einer Haltung, die „homoerotische Leidenschaften und Knabenliebe gewissermaßen zur zivilisatorischen Grundausstattung“ zählte (Der Spiegel, Nr. 13 / 29.3.2010, S. 35). Ich will dies nicht in Abrede stellen, sondern nur darauf hinweisen, dass ein Verehrer Georges wie mein Freund in der Lage war, zu differenzieren und Heterosexualität zu respektieren.
[1] Genau diese Kriterien werden bei der Interpretation der „Buddenbrooks“ verwendet. Aber mein Freund hat das Jugendwerk Thomas Manns anscheinend anders gelesen. Erst bei der Verfilmung durch den Hessischen Rundfunk fühlte er sich womöglich auf eine Lesart verwiesen, die ihn abstieß.