Die Reise nach Mainz: Fortsetzung
Meine Abteilbekanntschaft sah mich jetzt an, als sei sie über mein Leben bestens im Bilde.
Auch Rosa kam aus einem Winzerbetrieb. Der hatte sie trinkfest gemacht und lebensfroh. In jenem Herbst, als ich sie im juristischen Seminar kennenlernte, brachte sie eines Tages einen Korb voller saftiger goldgelber und blauer Burgundertrauben mit, und ich, zu schüchtern, mich selbst zu bedienen, wurde von Rosa gefragt, ob ich Trauben nicht mochte, was ich mit hochrotem Kopf verneinte. Dann gibt es also keinen Grund, die Trauben abzulehnen, sagte Rosa, und unhöflich willst du doch sicher auch nicht sein? Ich griff zu, hatte aber unter Rosas strengem Blick vor lauter Nervosität schon bald einen ordentlichen blauroten Spritzer auf meinem hellblauen Pullover, den rosa aber, so schein es mir, geflissentlich übersah.
Ob die Zeit des Federweißen schon vorbei sei, fragte ich meine Abteilbekanntschaft.
Ihre Augen blitzten putzmunter, als sie feststellte, die Zeit des Federweißen sei gerade in vollem Gange, in dieser Gegend liege er überall in der Luft, ich solle achtgeben, dass nicht allein sie mich schon trunken machte, noch ehe ich auch nur einen Tropfen vom jungen Jahrgangswein gekostet hätte. Mein Gegenüber kicherte, und ich kam mir vor wie ein dummer Junge.
Über dem Rhein lag ein Schleier aus Wärme und dünnem Nebel, und an den Hängen leuchteten die Weinberge golden.
In Kürze würden wir in den Bahnhof Bingerbrück einfahren, verkündete eine männliche Stimme, die aus dem Lautsprecher in unserem Abteil kam.
Natürlich wollte meine Abteilbekanntschaft, bevor sie ausstieg, noch wissen, was mich in die Gegend geführt hatte. Ich erklärte ihr, dass ich am Abend in Mainz erwartet würde.
Die Winzerfrau band sich ein buntes Seidentuch ums Haar. Sie sagte: „Bis zum Abend ist noch viel Zeit. Warum nehmen Sie nicht in Bingen das Schiff und reisen auf dem Wasser gegen Mainz?“ Sie fand, ich könnte mich, an einem Tag wie diesem, unmöglich damit zufriedengeben, die schönste Gegend der Welt nur aus einem Zugabteil heraus zu betrachten.
„Was würde denn ihr Haushälter dazu sagen, eine bezahlte Fahrt sausen zu lassen einer Schiffsfahrt wegen, die extra zu bezahlen ist?“, versuchte ich zu scherzen, wenngleich ich mich über ihre Einmischung in meine Angelegenheiten allmählich ärgerte.
„Sie haben Erinnerungen an diese Gegend. Ich hab´s in Ihren Augen gelesen“, sagte die Frau. „Und das Wetter ist heute gerade recht, um Erinnerungen in freundlicher Weise nachzuhängen.“
„Und wenn’s nun keine guten Erinnerungen wären?“
„Dann wird es höchste Zeit, sie zum Besseren zu wenden“, antwortete die Winzerfrau schlagfertig. Sie bestand darauf, dass ich mit ihr ausstieg.
Nicht das kleinste Lüftchen wehte, als ich den schmalen Pfad vom Bahnhof zum Schiffsanleger hinunterging. Wie leicht es der Winzerfrau doch gelungen war, dass ich mein Zugabteil gegen einen Sitzplatz auf einem Schiff tauschte, noch dazu, wo ich Schiffe nicht ausstehen kann. Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln, und doch war ich auch froh.
Schon nach wenigen Metern sah ich den breiten Fluss, seine elegante Schleife, wie er vom Binger Loch in den Mittelrhein wechselt, sah den Mäuseturm, von dem mir Rosa allerhand Geschichten erzählte – ob wahr oder erfunden, habe ich nie nachgeprüft -, erblickte die an der schmalen Uferleiste dicht zusammengedrängten Häuser. Sie mochten im Verlauf der Jahre etwas bunter geworden sein, doch nichts Wesentliches, dünkte es mir, hatte sich verändert, seit ich mit Rosa hier gewesen war. Nicht einmal die Gerüche, die mir jetzt, wie um meiner Erinnerung in beinahe schmerzhafter Weise Nachdruck zu verleihen, in die Nase stiegen.
Wenn sie jetzt käme und zu mir sagte, komm lass uns abhauen, irgendwohin, ich wäre dazu bereit gewesen. Noch immer.
Die letzten Passagiere, sah ich, gingen bereits an Bord des Fahrgastschiffs, dessen Namen ich von meinem augenblicklichen Standort aus noch nicht erkennen konnte. War es noch die Pegasus? Auf den ersten Blick sah es mir nicht danach aus. Als ich näherkam, las ich, dass das Fahrgastschiff Lorely Star hieß, und an Bord erfuhr ich, dass das Schiff 1999 gebaut worden war.
Ich suchte mir ein ruhiges Plätzchen auf dem Oberdeck. Ein sanfter Wind wehte mir ums Gesicht, als das Schiff ablegte. Ich schloss die Augen und bildete mir ein, es seien Rosas Hände, die mich berührten.
Herbst 1970. Johann Gutenberg-Universität. Hier lernte ich Rosa kennen, nachdem mir die Zentrale Studienvergabe einen Platz an der juristischen Fakultät in Mainz zugewiesen hatte. Ich wusste nicht viel von Mainz, eigentlich nur, dass hier im Frühjahr eines jeden Jahres Ausnahmezustand herrscht, weil dann Fastnacht gefeiert wird. Ich stamme aus einem kleinen, ziemlich trostlosen Ort in der Lüneburger Heide, und die Aussicht auf etwas Abwechslung, noch dazu ohne die Kontrolle durch meine Eltern und meinen Tanten, gefiel mir sehr. Ich wohnte auf dem Campusgelände, im sogenannten Inter I, das hatten meine Eltern irgendwie hingekriegt. Vermutlich, weil sie dachten, auf diese Weise sei ich den Gefahren einer fremden Stadt weniger ausgeliefert. Die Zimmer waren winzig und nicht gerade komfortabel, aber man war in fünf Minuten in jedem Hörsaal, der für einen in Frage kam und lernte schnell und unkompliziert Leute kennen.