Die Reise nach Mainz
©Brigitta Dewald-Koch
Bis Koblenz hing ich der Frage nach, warum in aller Welt ich mich hatte überreden lassen, diese Fahrt von Hamburg nach Mainz auf mich zu nehmen. Kommilitonen treffen, nach mehr als zwanzig Jahren, was versprach ich mir davon?
Die einfachste Antwort wäre gewesen, dass mich die Neugierde antrieb, ich wissen wollte, was aus dem einen oder anderen Hungerleider oder Möchtegern-Professor geworden war. Aber das stimmte nicht. Ich würde vermutlich die meisten Gesichter meiner ehemaligen Kommilitonen nicht einmal wiedererkennen, mich interessierte nicht, wer jetzt auf welchem Posten saß, internationale Beziehungen pflegte, verheiratet oder geschieden war, Kinder hatte, die fließend englisch, französisch, russisch, serbo-kroatisch oder chinesisch sprachen, und wer aus Prinzip oder aus Solidarität mit wem auch immer, arm geblieben und stolz darauf war. Von mir würde ich ohnehin nichts erzählen, das, war ich mir sicher, fiele aber auch nicht weiter auf. Ich war schon immer etwas wortkarg.
Ich gebe zu, die Reise war durchaus ein willkommener Anlass, mich in einer unangenehmen Sache vertreten zu lassen, den Fall eines leidenschaftlichen Italieners und seiner etwas spröden Gattin betreffend (ich hatte sie bereits einmal gemeinsam erlebt), die mir sicher ein weiteres Mal gestenreich die Stammbäume ihrer weit verzweigten Familien dargelegt hätten, die engen Verbindungen zwischen beiden Häusern, die neuerdings durch bedauerliche, wenngleich auch unvermeidliche Ereignisse, eigentlich aber nur Missverständnisse, in Unordnung geraten waren, und die hofften, ich könnte die alte Ordnung ohne allzu großen Aufwand wiederherstellen.
Da saß ich also im Zug und haderte mit mir. Denn der wahre Grund, weswegen ich diese Reise angetreten hatte, war Rosa. Bei Gott, Rosa wollte ich wiedersehen. Ich wollte wissen, wie sie lebte, mit wem, ich wollte wissen, was aus jenem großzügigen und selbstbewussten Mädchen von einst geworden war. Rosa, so hatte ich sie in Erinnerung, war durch nichts kleinzukriegen.
Je weiter ich dem Süden entgegenfuhr, desto stärker kam es mir vor, als ließe ich eine mir künstlich geschaffene Welt hinter mir zurück und kehrte zurück in jene, in der ich jung und stark und voller Hoffnung gewesen war. In Mainz hatte ich erfahren, dass Glück im Leben möglich ist, aber damals wusste ich damit nicht viel anzufangen, und so war ich in jener Welt gelandet, in der ich beruflich Erfolg hatte, privat aber nie so richtig auf die Füße kam. War das, was ich mit Rosa erlebt hatte, etwas Einmaliges, Unwiederholbares? Ich habe mich das oft gefragt. Und auch, ob man im Nachhinein, unter der drückenden Wirkung des Verlust, diesen Verlust umso intensiver empfindet?
In Koblenz kam eine kleine, stämmige und recht resolut wirkende Frau mit rosigen Wangen zu mir ins Abteil, in dem ich seit zwei Stationen alleine saß. Im Gegensatz zu meinen vorherigen Mitreisenden suchte diese Frau ganz offensichtlich das Gespräch mit mir. Zu Besuch bei Schwester und Patenkind sei sie gewesen, begann sie. In zwei Wochen stünde ihnen eine Hochzeit ins Haus. Der Mann sei gut gewählt, der Wein ebenso, letzteren steuere nämlich sie als Patentante zum Gelingen des Festes bei.
Dankbar, für eine Weile vom Ballast alter Erinnerungen und nutzloser Grübeleien befreit zu sein, beschloss ich, ein guter Zuhörer zu sein. Meine Abteilbekanntschaft plauderte munter drauf los, und mir kam der Verdacht, die Dame könnte den Wein mit der Braut und der Brautmutter schon einmal ordentlich vorgetestet haben, ehe man ihn einer Hochzeit für würdig befunden hatte.
Auf der Höhe der Lorely wusste ich, dass das Patenkind einen tüchtigen Verwaltungsbeamten heiraten würde, einen, der es noch weit bringen werde, wenigstens bis zum Oberamtsrat, dass er in Landesdiensten stand und in Mainz haushälterische Angelegenheiten verwaltete. Ein glückliches Paar sei es, hörte ich.
Ich dachte an meine eigenen Beziehungen, die alle hoffnungsvoll begonnen und jedes Mal in einem Desaster geendet hatten und wünschte dem jungen Paar von Herzen, ihm würde es miteinander besser ergehen.
„Sind Sie verheiratet“, fragte meine Abteilbekanntschaft ungeniert und als hätte sie meine Gedanken erraten.
„Ich war es“, entgegnete ich.
„Ach“, kam es einfühlsam vom Sitzplatz mir gegenüber. Für einen kurzen Augenblick war mein Gegenüber still.
Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, das reichte denn auch, um sie zu ihrem Redefluss zurückfinden zu lassen. Das war auf Höhe von Kaub.
Bald würden wir Bingen erreichen, sagte meine Abteilbekanntschaft. Bingen sei eine aufstrebende Kleinstadt und allemal einen Besuch wert. Ich erfuhr außerdem, dass ihre Familie dort in der vierten Generation einen Winzerbetrieb bewirtschafte, der über die Jahre weit über Bingen hinaus bekannt geworden war.
„Kennen Sie Bingen?“, frage mich die Frau.
Ich nickte.
„Darf man fragen, woher?“
„Eine alte Geschichte.“