Schreib-Befehl, II
V., 4. Oktober 1961
Der Vorfall, den ich genau schildern soll, spielte sich so ab:
Gestern fuhr ich mit dem Kameraden Steve W. in einem MG-Sportwagen auf der Landstraße von H. nach V., als uns ein Mädchen auffiel, die ein kleines Kind, ein Mädchen, an der Hand führte. Steve W. wollte sich „die Kleine“ anschauen und fuhr deshalb nahe an sie heran und neben ihr her. Er rief ihr vom Wagen aus Anzüglichkeiten zu und forderte sie auf, ins Auto zu steigen. Das Mädchen war vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Es beachtete uns kaum, sondern wich uns aus, indem es weiter nach rechts auf dem Gehweg ging. Steve W. wurde darüber ungehalten und meinte, das lasse er sich nicht gefallen von einer „deutschen Schlampe“. Er sagte zu mir, ich solle aussteigen und das kleine Kind ins Auto holen, dann müsse „die Schlampe“ hinterherkommen, und wir hätten sie dann. Ich zögerte aber, worauf er mir ein Schimpfwort zurief und selbst ausstieg und nach dem kleinen Mädchen griff. Er versuchte dabei freundlich zu tun und behauptete, er wolle die beiden nur von der gefährlichen Landstraße herunterholen und rasch nach Hause fahren. Als das kleine Kind im Auto saß, hinten auf dem Rücksitz, stieg auch die Vierzehnjährige zu ihm auf den Rücksitz. Steve W. setzte sich sofort ans Steuer und fuhr los. Während der Fahrt fragte er, wo er das Mädchen hinbringen solle, wie alt das kleine Mädchen sei, ob es die Schwester sei usw. Das Mädchen nannte uns seine Adresse, die ich aber schon wieder vergessen habe und sagte, das kleine Kind sei ihre Schwester. Sie bat uns, ihr nichts zu tun und hatte Angst. Steve W. versuchte so weit es ihm möglich war, diese Angst zu zerstreuen, aber man merkte – jedenfalls ich merkte es, und ich glaube, das Mädchen merkte es auch –, dass er sich freute, das Mädchen im Auto sitzen zu haben. Im Vorort N. hielt er plötzlich vor einem Lebensmittelladen an. Bevor er ausstieg, sagte er, er wolle Bier kaufen, für uns alle. Er drehte sich zu dem Mädchen um und meinte, dass sie doch bestimmt auch gerne Bier trinke. Aber das Mädchen weinte und bat ihn, sie rauszulassen aus dem Auto zusammen mit ihrer kleinen Schwester. Steve W. warf mir einen ermahnenden Blick zu, stieg aus dem Auto und ging zum Lebensmittelladen. Das Mädchen bat mich eindringlich, sie laufen zu lassen mit ihrer kleinen Schwester. Ich kann nicht sagen, dass ich meinen ersten Fehler beging, als ich mich einfach stumm stellte aus Angst vor den Vorwürfen des Kameraden Steve W. Ich hatte schon die ganze Zeit Fehler begangen, als ich nicht protestierte gegen das Verhalten des Kameraden.
Was weiter geschah, beschämt mich noch mehr, als was ich bisher schon erzählt habe. Das kleine Kind, das sich zu meiner Verwunderung die ganze Zeit über ruhig verhalten hatte, schrie nun auch los, angesteckt von der Angst und dem Weinen der großen Schwester. Steve W. kam zurück, öffnete die Autotür und warf einen fragend-abschätzigen Blick zu mir und auf den Rücksitz des Wagens mit den beiden weinenden Mädchen. Dann stieg er schnell ein, zündete den Motor und fuhr zurück nach H. Er bog in einen Feldweg ein. Kurz vor dem L.er Wald stoppte er den Wagen. Er lächelte das Mädchen an und sagte, warum sie sich so aufrege, er wolle mit ihr „ nur ein Bierchen trinken“. Das Mädchen griff mit zitternder Hand nach der Bierflasche, vielleicht noch einen Funken Hoffnung hegend, es möge doch nicht zum Schlimmsten kommen. Steve W. nickte ihr zu und befahl ihr mit einer weiteren Kopfbewegung, sie zu begleiten. Mir bedeutete er kurz: „Bleib hier, pass auf die Kleine auf!“ Er ging dann weg mit dem Mädchen. Das kleine Kind, als es sah, dass die große Schwester es allein ließ, fing wieder zu weinen an (es war zwischenzeitlich etwas ruhiger geworden, hatte nur noch gewimmert), es wollte nicht mehr aufhören zu weinen und wurde dabei immer lauter. Ich trug es hin und her und redete beruhigend auf es ein… – so weit ich das eben noch konnte, denn eigentlich war mir elend zumute. Ich entschloss mich dann in die Richtung zu gehen, in die Steve W. mit dem Mädchen verschwunden war. Einerseits, weil ich mir mit der Kleinen nicht mehr zu helfen wusste, andererseits weil ich wissen wollte, was er mit dem Mädchen anstellte. Es dauerte nicht lang, dass ich das Mädchen schreien hörte. Da rannte ich mit der Kleinen auf dem Arm hin. Steve W. lag auf dem Mädchen, die schrie und sich verzweifelt wehrte gegen die Vergewaltigung. In diesem Moment hatte ich eine Idee. Ich setzte das kleine Mädchen auf den Boden, riss Steve W. von dem Mädchen los und brüllte: „Polizei! Die suchen uns schon! Weg! Wir müssen abhauen!“ Steve W. blickte mich entgeistert an und war augenblicklich ernüchtert. Er sprang fast auf die Beine und zog sich die Hose hoch, die ihm an den Fußknöcheln hing. Das vergewaltigte Mädchen rappelte sich langsamer hoch. Es richtete sich den Rock. Steve W. sah mich an und rief:
„Was ist? Abhauen!“
„Die Kinder kommen mit!“, bestimmte ich.
„Spinnst du?“
Ich sah die beiden Mädchen an:
„Wir setzen euch an der nächsten Bushaltestelle ab!“
Steve W. fragte noch einmal:
„Spinnst du?“
Ich schrie ihn an:
„Halts Maul!“
Jetzt griff das Mädchen nach der kleinen Schwester und machte einen Versuch zu fliehen. Ich hielt sie fest und sagte noch einmal:
„Ich setze dich und deine Schwester an der nächsten Bushaltestelle ab! Versprochen! Kommt!“
Steve W. schüttelte ungläubig den Kopf, sagte aber nichts mehr. Ich setzte mich ans Steuer. Wir fuhren alle zurück, und ich ließ die beiden Mädchen an einer Bushaltestelle in H. raus.
„Mich kannst du auch gleich rauslassen, an der nächsten Kneipe“, sagte Steve W.
Ich setzte ihn ab wie gewünscht und war froh, allein zu sein. Aber dann wurde mir die Zeit schnell quälend – in Gedanken an das vergewaltigte Mädchen und seine kleine Schwester. Kurz vor Mitternacht wurde ich verhaftet.