Geschoss in der Haustür, Fortsetzung
Wie beneidete ich nun einen meiner Arbeitskollegen! Er besaß einen Dobermann, ein aufmerksames, respekteinflößendes Tier, dem kein Schritt und keine Bewegung entgingen. Wie gerne hätte ich „Bauschan“ heute hier gehabt! Sollte ich nicht meinen Arbeitskollegen anrufen und ihn bitten, mit Bauschan zu mir zu kommen und die Nacht im Gästezimmer zu bleiben? Aber das war ein Kinderwunsch, der Kollege besaß Familie. Morgen stand ein normaler Arbeitstag an. Und was hätte ich zur Begründung angeben können? Dass ich fürchtete, erschossen zu werden und das Risiko gerne zur Hälfte an meinen Kollegen abtreten würde?
Das Telefon klingelte. Ich griff nach dem Hörer und erkannte die Stimme meiner Frau. Warum ich mich noch nicht gemeldet hätte? Ob etwas vorgefallen sei?
Nein, nein, log ich, alles in Ordnung! Ich hätte heute nur länger im Büro bleiben müssen, und dann sei ich müde nach Hause gekommen und gleich auf dem Sofa eingeschlafen. Also danke für den Anruf, ich hätte sonst womöglich die ganze Nacht in Kleidern auf dem Sofa verbracht.
Es ist schwer, meiner Frau etwas vorzumachen. Ich gab mir jedoch alle Mühe, meinen Einfall mit dem Sofa durch die überzeugendste Stimme zu grundieren. Am Ende schien sie mir zu glauben und wünschte mir eine erholsame Nacht. Erleichtert legte ich den Hörer auf die Gabel. Ich hatte Zeit gewonnen, erst übermorgen würde sie mit unserer kleinen Tochter zurückkommen. Dann allerdings musste ich ihr reinen Wein einschenken. Mein bisheriges Schweigen könnte ich gut erklären mit der Sorge vor ihrer Beunruhigung. Vielleicht würde der Fall bis zu ihrer Rückkehr schon von der Polizei aufgeklärt werden! Dann könnte ich ihr alles mit einem Lächeln berichten!
Leider trog mich diese Hoffnung. Die Nachforschungen der Polizei richteten sich darauf, das Projektil eindeutig zu bestimmen, was jedoch mit Schwierigkeiten verbunden war, wie mir ein Kriminalbeamter erklärte.
Anlässlich einer Rücksprache mit der amerikanischen Kriminalpolizei in Mannheim sei festgestellt worden, dass annähernd 100 Firmen Munition für die in Frage kommenden Waffen M14 und M60 herstellen. Die Munition unterscheide sich lediglich bezüglich der Prägung am Hülsenstoßboden. Es sei nicht völlig auszuschließen, dass es sich bei dem fraglichen Projektil um veraltete Munition handle, die vormals für die Waffen M1 Verwendung gefunden habe. Diese Waffen und die dazugehörige Munition würde derzeit von US-Einheiten nicht mehr benutzt.
Gut, meinte ich (meinte aber das Gegenteil!), und jetzt?
Jetzt sollten Schusswaffensachverständige der US-Armee in Frankfurt am Main kontaktiert und zur Identifizierung des fraglichen Projektils gehört werden, antwortete der Kriminalbeamte.
Ein klein wenig Licht in die Angelegenheit brachte das ballistische Gutachten des Hessischen Landeskriminalamtes Wiesbaden. Die Maße des Geschosses konnten angegeben und der Waffentyp wenigstens eingegrenzt werden, mit dem es verfeuert worden war. Auch die Flugbahn konnte näher beschrieben werden. Dabei musste von einer erheblichen Abweichung von der normalen Schussrichtung ausgegangen werden, weil das Geschoss über die gesamte Oberfläche mit Fremdspuren überlagert war. Der Umstand legte die Vermutung nahe, dass es vor dem Einschlag in die Haustür auf seiner Flugbahn Bodenberührung hatte. Nach dem Einfallwinkel von ca. 60° und der geringen Eindringtiefe war darauf zu schließen, dass sich das Geschoss „am Ende seiner Laufbahn“ befand.
Das war „Licht“ nicht nur im Hinblick auf Faktisches, sondern auch „Licht“, die meine Angst erhellte. Offenbar hatte niemand die Absicht gehegt, mich umzubringen, ja nicht einmal mein Haus zu treffen. Das Geschoss war nach dem bisherigen Erkenntnisstand der Polizei lediglich ein „Irrläufer“.
Die Beunruhigung setzte aber bald wieder ein, nicht nur durch meine Frau, die gleich nach ihrer Rückkehr mit unserer Tochter das Haus wieder verließ, als sie hörte und sah, was vorgefallen war. Bis zur vollständigen Aufklärung des Falles und – wie sie betonte – der Verhaftung des Täters, wohne sie mit der Tochter bei ihren Eltern im nahegelegenen A. Sie verlangte, dass ich mitkommen solle, was ich unter Hinweis auf die andauernden Ermittlungen der Polizei ablehnte. Ausreden, meinte sie, nichts als Ausreden! In Wahrheit wolle ich nur nicht die Einschränkungen in der Bequemlichkeit hinnehmen, die mit dem übergangsweisen Wohnen im kleineren Haus ihrer Eltern verbunden seien.
Ich sah sie an und wusste, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Meine eigene Angst vor einem möglichen Bösewicht mit einem Schießprügel hatte sich so weit abgeschwächt, dass ich das selbstbestimmte Leben in meinem Haus dem Quartierleben bei den Schwiegereltern vorzog. Bedauerlich fand ich es trotzdem, dass die Familie zumindest für einige Zeit auseinandergerissen war.
Der Schießstand nordöstlich der S.-Kaserne in M.-K., von dem das Geschoss „mit hoher Wahrscheinlichkeit“, wie es im Abschlussbericht der Polizei hieß, verfeuert worden war, war zur fraglichen Zeit nicht von US-Soldaten benutzt worden. Die in Frage kommende Munition wurde seit längerer Zeit bereits nicht mehr an US-Soldaten ausgegeben. Auch konnte nicht genau geklärt werden, aus welcher Waffe das Geschoss verfeuert worden war, offenbar nicht aus den jetzt bei der US-Armee in Gebrauch befindlichen Langwaffen. Zuletzt veröffentlichte die Polizei einen Aufruf, um in der Sache doch noch voranzukommen, aber auch dies führte nicht zur Identität des Schützen.
Meine Frau wohnt mit dem Kind noch immer bei ihren Eltern. Ich solle das Haus verkaufen, fordert sie seit neuestem. Wie soll ich das machen? Es gehört noch nicht uns, es gehört der Bank.
Kann nicht überall ein Unglück geschehen wie bei uns mit dem verirrten Geschoss? Sind wir nun in unserem Haus nicht eher sicherer als anderswo, weil uns das Unglück kaum zum zweiten Mal auf unserem Grundstück ereilen wird?
Die Spuren des Einschlags an der Haustür sind längst beseitigt, aber immer neue Fragen türmen sich vor mir auf.