Besondere Vorkommnisse


Besondere Vorkommnisse

 

Einleitung des Herausgebers

 

In den sechziger Jahren saß der Polizeiwachtmeister Klaus G. spätabends mit einem Kollegen im Streifenwagen in B., als ein Pkw viel zu schnell in die Forsterstraße einbog und sich dabei die Vorfahrt erzwang. Sofort setzten die Polizisten ihm nach und forderten ihn über Lautsprecher zum Halten auf. Daraufhin beschleunigte der Fahrer das Tempo und versuchte offensichtlich durch verschiedene Ortsstraßen zu flüchten. Als er die B 23 erreicht hatte, war das Polizeiauto nahe genug an ihn herangekommen, um ihn zu überholen, wurde aber vom Fluchtauto gerammt und beinahe in den Straßengraben gedrängt. Natürlich forderte Klaus G. – auf dem Beifahrersitz des Polizeiautos – weiterhin immer eindringlicher über Lautsprecher zum Halten auf. Er und sein Kollege konnten das Autokennzeichen lesen und sich das Gesicht des Flüchtenden – der sich einmal nach ihnen umgedreht hatte – einigermaßen einprägen; ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Mann mit halblangen Haaren.

Plötzlich entdeckte Klaus G. auf dem Rücksitz des Fluchtfahrzeuges einen weiteren Mann und eine Frau. Die Frau wurde vom Mann am Kopf oder Hals gepackt und herunter gezogen. Auch der Mann versuchte sich im Wageninneren zu verstecken, hatte aber Mühe, die Frau, die sich wehrte, zu bändigen. Klaus G.s Kollege sagte sofort, da sei „was im Busch“, Klaus G. solle Schusswaffengebrauch über Lautsprecher androhen. Als auch das den Fahrer nicht zum Halten brachte, gab Klaus G. einen Schreckschuss ab. Trotzdem setzte der Mann die Flucht fort. Nur durch einen zufällig vorbeikommenden zweiten Streifenwagen, dessen Fahrer blitzschnell die Situation erkannte, konnte er endlich in einem waghalsigen Manöver gestoppt werden.

Aber das Unglück geschah: Bei einem Überholversuch rutschten – besser gesagt: knallten! – Klaus G. und sein Kollege in den Straßengraben, und diesmal ohne direkte Einwirkung des flüchtenden Fahrers! Klaus G.s Kollege wurde glücklicherweise nur leicht verletzt, aber ihn selbst hatte es erwischt: die verschiedenen Frakturen, die er sich trotz vorschriftsmäßig angelegten Beckengurtes zugezogen hatte, heilten nicht mehr alle so zusammen, wie die Ärzte und insbesondere er selbst das gewünscht hätten. Vom Streifendienst wurde er deshalb nach einigen Monaten Klinik- und Reha-Aufenthalt sowie einer Umschulungs-Phase „ins Büro“ versetzt, nicht mehr zu Hause in B., sondern in die Kreisstadt H.

Eine seiner Hauptaufgaben dort bestand in der Registratur der Polizeiberichte über „besondere Vorkommnisse“, die von den verschiedenen Landespolizeistellen, Polizeiverkehrsbereitschaften, Polizeikommissariaten, Kriminalinspektionen und Kriminalkommissariaten an die Zentrale geschickt wurden. Er musste diese Berichte lesen, um sie abheften zu können nach einem bestimmten Ordnungssystem. Es entstammte einem ministeriellen Schreiben vom April 1961 und betraf Punkte wie „Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte“, „Tod oder schwere Verletzung von Polizeibeamten in Ausübung des Dienstes“ (da fand er auch seinen „Fall“ beschrieben), „Entweichen von Gefangenen aus Polizeigewahrsam“, „Sabotageakte“, „Untergrundbewegungen“ oder „schwere Verkehrsunfälle“. Ein Gutteil der Berichte, die auf Klaus G.s Schreibtisch landeten, passten nicht zu den Punkten des Ministers. Der – mittlerweile zum Polizeihauptwachtmeister beförderte – Klaus G. fügte deshalb – mit Genehmigung seiner Vorgesetzten – noch Punkte wie „Fahnen-Frevel“, „Einbruch“, „Brände“, „Selbstmorde“, „Morde“ usw. hinzu.

Bald nachdem er den „Bürodienst“ aufgenommen hatte, schrieb er Fälle, die ihm im Gedächtnis blieben, in Erzählform aus der Ich-Perspektive abends in Hefte, mal aus Sicht des Opfers, mal aus der des Täters. Diese Hefte füllten nach und nach seine heimische Schreibtischschublade und werden hier auszugsweise und anonymisiert wiedergegeben.

Der Fahrer der oben geschilderten Pkw-Verfolgung war 26 Jahre alt, stand unter erheblichem Alkoholeinfluss und hatte mit seinen beiden Freunden, dem Mann und der Frau, die ebenfalls alkoholisiert waren, nach einem Partybesuch aus Übermut das Auto eines Bekannten aufgebrochen, mit dem sie „nur eine kleine Spritztour“ machen wollten. Als sie den Polizeiwagen Klaus G.s und seines Kollegen sahen, wollten sie, nach ihren eigenen Worten, „nur schnell abhauen“. Dass der Mann auf dem Hintersitz die Frau herunterdrückte, geschah deshalb, weil er – wie er später angab – seine Identifizierung fürchtete, wenn die Frau erkannt würde… – Ein Gedanke, der nicht völlig abwegig, aber wohl auch dem Alkohol geschuldet war. Die Frau war ebenfalls so stark angetrunken, dass sie nicht mehr begriff, was vor sich ging, und sich nur wehrte gegen die augenblickliche grobe Behandlung des Mannes.

 

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