16-011
Manche Errungenschaft des modernen Lebens weiß ich als Reiseleiter durchaus zu schätzen, auch wenn Busreisen allgemein (zu Unrecht, wie ich finde) der Ruf des Altmodischen anhaftet. Ich wollte ja keine Werbung machen – aber auf Spotify möchte ich nicht mehr verzichten.
Lange Flüge werden so entspannter. Kopfhörer auf, die persönlichen Lieblinge abgespielt und schon zieht Ruhe ein. Abends im Hotel, wenn alle mit dem Abendessen fertig sind und ich Feierabend habe, lasse ich auf dem Zimmer eine halbe Stunde Musik laufen, schreibe den Tagesbericht und komme zur Ruhe. Vorausgesetzt, man hat den passenden Adapter dabei, um das Smartphone wieder aufzuladen.
Meiner Familie habe ich erklärt, falls mir was passiert, ein Busunfall oder so, damit muss man ja immer rechnen, und ich liege im Koma – dann sollen sie an meinem Krankenbett 4 Tage lang ununterbrochen meine persönliche Hitliste laufen lassen. Das sind knapp 40 Stunden mit allem an Musik, was mir in meinem bisherigen Leben wichtig war – wenn sich davon in meinem Gehirn nichts in Bewegung setzt, dann wird das mit medizinischen Mitteln wahrscheinlich auch nichts mehr.
Besonders schön finde ich die Möglichkeit, verschiedene Playlisten anzulegen – ich habe für jedes Land, in das ich als Reiseleiter fahre, eine eigene. Bislang ist es gut angekommen, wenn ich während der Fahrt ein Stündchen lang die Musik des besuchten Landes über das Radio in Bus laufen lassen Man muss behutsam sein, allzu modern und technolastig oder rockig sollte es nicht sein, aber man findet schon genügend Titel, um die Reisegäste musikalisch in die Landesstimmung zu versetzen. Man kann die Stücke auch mischen und es ist praktischer, als einen Stapel CDs mitzuschleppen.
Am Wochenende geht es wieder nach Frankreich –ich habe 4 Stunden Musik zusammengestellt. Die Klassiker wie Edith Piaf, Charles Aznavour, Gilbert Bécaud, Jacques Brel (gut, der war Belgier, sei’s drum) und Georges Moustaki gehen immer, Mireille Matthieu sowieso, „An einem Sonntag in Avignon“ – zumal wir an einem Sonntag in diese wunderschöne Stadt kommen werden. Man kann auch vorsichtig das ein oder andere Neue dazwischen mogeln, die von mir heiß verehrte Zaz beispielsweise oder Les negresses vertes, um zu zeigen, dass die französische Musik heute Einflüsse von überall her aufnimmt.
Oder im August, wenn es nach Südwest-England geht: Wenn wir in Dover von der Fähre aus losrollen, gibt es erst einmal Edward Elgar auf die Ohren. Pomp and circumstance, Marsch Nr. 1, „Land of hope and glory“. Das halten viele für ein amerikanisches Stück, weil es bevorzugt auf den Graduation-Zeremonien an amerikanischen Highschools gespielt wird (wahrscheinlich, weil man das in Endlosschleife laufen lassen kann, bis alle vorn angekommen sind) – es ist aber very, very britisch. Danach „The floral dance“ von der Brighouse & Rastrick Band – englische Blasmusik ist schon was sehr Spezielles. Und dann noch Paul McCartney, „English tea“, schon wegen „miles and miles of english gardens“ – anschließend erträgt man sogar Gurkensandwiches.
Ach ja, Paulchen McCartney. Auf den komme ich gleich noch mal.
Natürlich gibt es bei Spotify auch schmerzliche Lücken. Einige Künstler boykottieren den Streaming-Dienst, weil er den Musikern Honorare zahlt, die nicht eben üppig sind. Das kann man nachvollziehen und akzeptieren – immerhin haben dieser und andere solche Dienste dafür gesorgt, dass wesentlich weniger CDs verkauft werden, und von irgendwas müssen auch Künstler schließlich leben, auch wenn das nicht jeder einsieht (ich weiß, wovon ich rede). Mit diesen Lücken kann ich leben und nur hoffen, dass am Ende eine für die Künstler befriedigende Lösung herauskommt – und ich die ultimative Hitliste meines Lebens endlich vervollständigen kann (aber: Will ich das überhaupt?).
Doch es gibt noch andere Lücken, und da sind wir wieder bei Paulchen McCartney. Unmittelbar nach dem Auseinanderbrechen der Beatles muss es ihn furchtbar genervt haben, dass sein alter Kumpel und späterer, sagen wir: Rivale, John Lennon als politisch engagiert und total progressiv angesehen war, noch dazu dank seiner Aktionen mit Yoko Ono. (Ausgerechnet die! Wird Paul sich gesagt haben, es gibt ja einige Fans, die glauben, dass der Zickenkrieg zwischen Yoko Ono und Linda McCartney letztlich zum Auseinanderbrechen der Beatles geführt hat.) Und politisch und engagiert und progressiv wollte nach 1968 jeder sein. Paul dagegen galt als der Mann des Seichten, der Schnulze.
Das muss sich ändern, sagte sich Paul, setzte sich hin und veröffentlichte 1972 einen Song, der hochpolitisch war und außerdem (für mich) musikalisch zum Besten gehört, was er mit den Wings je gemacht hat: „Give Ireland back to the Irish!“, in dem er sein Heimatland Großbritannien auffordert, Nordirland endlich in die Selbständigkeit zu entlassen- Falls sich Nordirland dann mit der Republik Irland vereinigen sollte, auch gut. In meiner privaten Hitliste wäre der Song auf alle Fälle mit drin.
Wäre. Denn als ich im Mai nach Irland und Nordirland fuhr, musste ich feststellen, dass gegen Ende des vergangenen Jahres bei Spotify zwar angekündigt wurde, endlich sei das komplette Werk der Beatles und der Nachfolgeprojekte im Angebot – nur eben dieses kleine Liedchen habe ich auch nach langem Suchen nicht finden können, zumindest nicht in der Fassung von den Wings.
Das ist vielleicht verständlich. 1997 wurde Paulchen von Elisabeth II. in den Adelsstand erhoben und darf sich Sir Paul nennen. Und seine Königin wäre wohl not amused, wenn einer ihrer Knight Bachelors sie anbrüllen würde, sie möge doch bitteschön einen Teil ihres hübschen kleinen Königreiches abgeben. Ist eh nur noch ein letzter Rest dessen, was mal das British Empire war.
Vielleicht ist Sir Paul der rüpelhafte Sturm und Drang seiner Jugend heute peinlich – also tut er so, als habe er das Lied nie geschrieben. Interessante Frage; Kann man ein Kunstwerk, und sei es auch nur ein Popsong, zurücknehmen? Ich kenne Schriftsteller, die haben in ihrem Testament verfügt, dass alles, was sich in ihren Schubladen an Unveröffentlichtem findet, zu verbrennen sei –es wird schon seinen Grund haben, warum sie es nicht veröffentlicht haben.
Aber Sachen, die erschienen sind? Ich habe von Schriftstellern gehört, die einen Bestseller gelandet haben und anschließend sehr pikiert reagierten, als der Verlag in dem Zug auch gleich noch ein paar frühere Bücher wieder aufgelegt hat. Auch ein Verlag muss Geld verdienen sonst geht er pleite (auch hier weiß ich, wovon ich re). Kann man ein einmal erschienenes Buch ungelesen machen? Ein veröffentlichtes Lied ungehört? Ein einmal ausgestelltes Bild ungemalt, ungesehen? Der Grafiker Aubrey Beardsley hat das versucht, als er sich gegen Ende seines kurzen Lebens radikaler Christ wurde – da wollte er, dass die frivolen Grafiken seiner Jugend vernichtet werden. Genützt hat das freilich wenig, zum Glück.
Andererseits, wenn es eine solche Möglichkeit gäbe, Kunstwerke wieder ungeschaffen zu machen, ich wüsste schon ein paar Künstler, insbesondere Musiker, die ich darum anflehen würde.
Keine Namen hier. Ich bin ja nicht Facebook, wo man über jeden, den man nicht mag, hemmungslos herziehen kann. Außerdem muss ich meine Frankreich-Liste noch ein wenig aufpolieren.
PS1: Wie man mit Ehrungen der Queen souverän umgehen kann, hat die von mir ebenfalls heiß verehrte Kate Bush gezeigt. Als sie 2012 zum Commander in the most excellent Order of the British Empire ernannt wurde, mit dazugehörigem Orden natürlich, kommentierte sie dies mit den Worten: „Toll. Jetzt kann ich etwas an den Weihnachtsbaum hängen, was nicht jeder hat!“
PS2: Falls das jemand von Spotify liest: Könnt ihr die Poppies mit aufnehmen? Die werden auf Frankreichreisen immer gewünscht. Wahrscheinlich kennt die in Schweden, wo Spotify sitzt, kein Mensch, aber in der DDR, aus der fast alle meiner Reisegäste stammen, da waren sie sehr populär. Ist ja nur ein Wunsch.