Der Flüchtling — Perspektiven-Wechsel
14.01.2016
Stellen Sie sich einmal folgende Situation vor:
Die soziale Situation in Deutschland ist eskaliert. Die habgierigen Reichen haben die ängstlichen Armen in menschunwürdige Lebenszustände getrieben. Während nun Erstere den totalen Willen zur Macht ausleben und selbstvergessen genießen, haben sich die Globalisierungs-Sklaven klammheimlich organisiert, solidarisiert, und proben nun einen Aufstand. Homo homini lupus — jeder kämpft gegen jeden: Die Superreichen gegen die weniger Reichen (denn letztere wittern die Chance auf noch mehr Gewinn, während erstere von ihrem Überfluss und damit ineins von ihrer Macht nicht(s) abgeben wollen…); die “untere Mittelschicht“ gegen die “Obere Mittelschicht“ (auch jene wollen nun endlich “ein Stück vom Kuchen“ abhaben, aber jene möchten ihren “Kuchen“ dann doch lieber nicht mit anderen teilen…); den Armen wiederum sind inzwischen alle Reicheren uni sono verhasst (zu oft wurden sie von ihnen “belogen und betrogen“ — so fühlen sie das jedenfalls…); und die Ärmsten der Armen, die schon lange nichts mehr zu verlieren hatten, weil sie schon in Friedens-Zeiten alles umverteilt, weggeteilt, weggenommen bekamen, die können in den Aufständen für ein paar Dollar ihr Glück versuchen. Allein, reich werden sie hierdurch nicht werden. Wer arm geboren wurde, der wird auch als Armer sterben — so will es das ungeschriebene Gesetz der “Totalen Vermarktung Jedermanns“.
Nun haben sich also alle Gruppen und Gruppierungen bis an die (ausgefallenen) Zähne bewaffnet und kämpfen verbissen fanatisch jeder gegen jeden. Täglich sterben Männer, Frauen und Kinder — nicht nur an der undefinierten Front dieses Bürger-Krieges — sondern auch dort, wo es dunkle Straßen-Schluchten ad hoc als “günstige Chance“ erscheinen lassen. Hier eine Sprengstoff-Falle; dort ein Selbstmord-Attentat. Hier die Tat eines Wahnsinnigen; dort die Rache-Tat eines Fanatikers.
Sie haben in all den Monaten und Jahren des Schlachtens und Sterbens, der Massaker und Femegerichte genügend Mord und Totschlag, genügend Leid und Schmerz, genügend Wahnsinn gesehen und teilweise auch selbst durchlebt und haben — bis dato — überlebt. Sie wissen: dass Sie noch leben ist reiner Zufall, vielleicht auch etwas Glück. Wann aber wird sich dieser Zufall in Schicksal ändern? Wann das Glück in Un-Glück sich wenden?
So beschließen Sie die Flucht. In einer Reisetasche und einem kleinen Rucksack haben Sie Ihre “sieben Sachen“ verstaut: Papiere, Ausweise, Zeugnisse, eben Dokumente verschiedenster Art; auch etwas Geld (es wird sowieso nicht reichen…); ein Foto mit Ihren Liebsten (den Eltern, Geschwistern, der eigenen Familie — aus glücklicheren Tagen…). Das ist alles, was Ihnen von Ihrer Heimat als Erinnerung bleibt.
Sie machen sich zu Fuß auf den langen Weg, von dem Sie nicht wissen, wohin er Sie führen wird. Nur weg von hier — und dem Töten, dem Morden. Raus aus der Stadt. Raus, übers Land, wo im Frühjahr die Kirschbäume blühen. Raus, nur weg von hier! Am Ende des Tages — Sie haben ihn wie auch immer überlebt — treffen Sie in der Dämmerung einen Gleichgesinnten. Auch er zu Fuß. Frau und Kind dabei. Sie beschließen zusammenzugehen. Strapazen lassen sich mit Gleichgesinnten leichter ertragen. Am kommenden Morgen — falls Sie die Nacht überleben werden — wollen Sie nach einer Mitfahrgelegenheit ausschau halten. Wenn Sie Ihr Geld zusammenlegen, können Sie vielleicht aus dieser Region entkommen. Wenn…
Nach mehreren Tagen auf der Flucht gelingt es der Frau des Weggefährten, einen Fahrer zu organisieren. Sie hat dem Mann ihr Leid geklagt; das Kind auf dem Arm. Er habe eingewilligt die Vier zu einem Sammelplatz zu fahren — für das Fünfzigfache des üblichen Preises. Sie willigen ein. Welche Wahl hätten Sie auch…?
Später werden Sie erfahren, dass ebendieser Mann auf dem Rückweg vom Sammelplatz in seinem PKW von einer Granate zerfetzt worden sei. Was nutzte ihm das Geld…—?
Am Sammelplatz selbst unbeschreibliche Zustände: Hunderte, vielleicht gar Tausende von Menschen. Alle drängeln, schieben, schreien durcheinander, gestikulieren — ein einziges babylonisches Durcheinander. Jeder will auf einen der wenigen Trucks oder Pickups, die schon hoffnungslos überladen sind. Zwanzig zusammengepfercht auf einem Pickup; 200 oder mehr auf einem Truck. Bei den Schlepper-Banden herrscht “Goldgräber-Stimmung“: Sie verdienen an der Not dieser Menschen Unsummen. Zwischen 500 und 1.500 US$ pro Kopf — cash, on the nail.
Im Geschiebe und Gedränge der Laderampe verlieren Sie die Familie, die mit Ihnen geflohen war, aus den Augen. Sie können sich nicht von ihnen verabschieden; zu groß ist der Druck nach vorn, auf den Aufleger des Trucks. Wie Schlachtvieh auf den Viehtransportern quer durch Europa, werden Sie zusammengepresst. Sie drohen ohnmächtig zu werden, ringen verzweifelt nach Luft. Väter haben vorsorglich ihre Kinder auf die Schultern gehoben, dass sie nicht erdrückt werden. Bei 500 “Mann“ ist Schluss; die Ladeklappe wird endlich hochgeschlagen und verriegelt. Noch nie nahmen Sie den Sternenhimmel über Deutschland so intensiv wahr, wie heute nacht. Es ist Frühling. Kirschblütenzeit. In zwei bis drei Wochen — so hoffen Sie — werden Sie in Sicherheit sein.
Fortsetzung: 26.05.2016
So fahren Sie, dicht gedrängt, in einer Kolonne aus drei Trucks über Land. In der Ferne sind noch die Granateinschläge wie fernes Donnergrollen zu hören; am Horizont flackert der nächtliche Himmel blutrot im Trommelfeuer der Geschütze auf. Aber mit jeder Viertelstunde, die Sie zusammengepfercht die Bundesstraße hinunterrumpeln, werden das Donnergrollen und der Widerschein der Granatwerfer leiser und kleiner. Erste Hoffnung keimt auf: „Vielleicht haben wir es doch geschafft…“ Der Duft von Kirschblüten und frisch geschnittenem Gras liegt satt in der Luft und spendet der ängstlichen Seele spärlichen Trost.
Nach Stunden auf der Ladefläche, es beginnt bereits zu tagen, schwenkt der Truck auf eine Seitenstraße ab und dimmt sein Fahrtlicht. Feindes-Land. Beherrscht von einem anderen Clan, der ebenfalls an der Situation der Flüchtenden mitverdienen möchte. „Blutzoll“. Leise umfährt der Konvoi auf Schleichwegen die Straßensperren der Milizen. Sie haben Glück. Heute geht kein Truck verloren. Endlich nimmt die Luft einen anderen Geruch an: er ist geschwängert von Salz und Tang und „Meeresfrüchten“. Als Silberstreif am Horizont: das Meer. Ist’s die Nord- oder doch die Ostsee? Orte, wo man früher vergnüglich Urlaub machte, relaxte, sich erholte… Heute, im Bürgerkrieg, eine einzige Wüstenei. Zur Unkenntlichkeit verkommen.
Die Fahrer übergeben ihre Fracht an die Mittelsmänner der Schleuser. Diese haben bereits große Schlauchboote präpariert; mit einem „Außenborder“; angeblich vollgetankt, so dass man die Überfahrt schaffen kann. Gegen weitere 50 US$ erhält jeder, der sich’s leisten kann, eine Schwimmweste, die diesen Namen jedoch nicht wirklich verdient. Kein Essen, kein Wasser; keinerlei Verpflegung. Vielleicht gerade noch eilig irgendwo seine Notdurft verrichtet. Dann geht’s aufs weite Meer hinaus. Wohin? Es weiß niemand „an Bord“ zu sagen… Trotz der lauen Frühjahrs-Brise ist das Wasser noch immer zwischen +4°C und +7°C kalt. Wer hineinfällt ist, trotz Schwimmweste, binnen weniger Minuten an Unterkühlung gestorben. Es heißt, weiter draußen, in der offenen See werde man von einem größeren Frachter aufgenommen und dann in einen sicheren Hafen gebracht. Es ist der einzige „Strohhalm der Hoffnung“, an den man sich im schwankenden und völlig überladenen Boot klammert. Wer ohne Hoffnung hinausfährt, so heißt es immer wieder, der stirbt als erster. So hoffen und glauben 180 Personen, dass das Wort der Schlepper wahr sein möge. Worauf sonst könnten sie jetzt auch noch vertrauen…?
Nach zwei, vielleicht auch drei Stunden auf hoher See, die Wellen sind schon längst ins Boot geschlagen und haben die Menschen durchnässt, fängt plötzlich der Außenborder an zu „stottern“; er „spuckt“ noch ein paar Mal, dann ist er still. Gespenstisch still. Der Unbill des Wetters und des Meeres schutz- und hilflos ausgesetzt, kriecht die Angst zurück in die Herzen der Flüchtlinge, nagt und zerrt an deren Nerven, steigert sich selbst bei einigen zur Panik. Aber was tun…? Es gibt hier draußen keinerlei Entrinnen. Zwischen den rettenden Ufern lauert als Abgrund nur der Tod…
Aber — wie in jeder Gruppe — so gibt es auch unter diesen 180 „Boat-People“ geistesgegenwärtige Menschen mit Durchsetzungsvermögen, die sich ziemlich schnell organisieren und sich gegen das entstehende emotionale Chaos zur Wehr setzen. Diese ergreifen das Wort; übernehmen für den Moment das Kommando an Bord. Auf diese Weise gelingt es ihnen, eine allgemeine Panik zu verhindern, auch wenn sie nicht die Angst in den Herzen der meisten Menschen an Bord unterdrücken können. Immerhin: das Boot kentert vorerst nicht, sondern schlingert weiter durch die gischtenden Wellen. Wer noch beten kann, der betet jetzt. Wer noch hoffen kann, der hofft, dass von irgendwoher der angekündigte Frachter kommen werde — einem rettenden Floß gleich… Vergebens. Als es Abend wird, ist jedem an Bord klar: Das Versprechen der Schleuser war im Grunde eine Lüge gewesen. Es wird kein Frachter und auch sonst keinerlei Rettung kommen. Worauf hoffen Sie nun? Woraus ziehen Sie nun Zuversicht?? Wie nun die nächsten Stunden der Nacht, ja womöglich die kommenden Tage überstehen…? Die durchnässten Gestalten sacken in sich zusammen. Hoffnungs-los. Manche fallen rücklings über Bord — ein letzter, verzweifelter Blick zu den Leidens- und Schicksals-Genossen, dann versinken sie lautlos in den Fluten…
Aber — Gott sei Dank — wenigstens die Luftkammern des Schlauchbootes bleiben dicht. So schaukeln Sie und die übrigen Überlebenden in der pechschwarzen Nacht. Nun droht Ihnen aber eine ganz andere Gefahr: ohne irgendein „Positionslicht“ läuft das kleine Boot Gefahr, von einem Superfrachter, Supertanker oder Containerriesen übersehen und in den Sog der gigantischen Schiffsschrauben gesaugt zu werden… Aber die Lichter, die Sie sehen können — auf hoher See können das bis zu 20 Seemeilen sein — sind viel zu weit weg. Ihre Position liegt außerhalb der stark frequentierten Seefahrts-Routen. Trost und Verhängnis zugleich…
Nach Tagen auf See, nur etwa ein Drittel der Flüchtlinge befinden sich noch an Bord des Schlauchbootes, nimmt das Schicksal des Ausgesetzts-Seins seine Wendung: Ein Schiff der Kriegsmarine hat Sie entdeckt und nimmt Kurs auf die Unglücklichen. Ein Beiboot wird zu Wasser gelassen und nähert sich vorsichtig dem zerschundenen Schlauchboot. Wer sich darin jetzt noch freuen kann, entkräftet und dehydriert wie er ist, der freut sich über die nahende Rettung! Zwei Stunden später liegen etwa 50 ausgemergelte Gestalten auf dem Deck der Fregatte. Sie werden ärztlich notversorgt. Gerettet. Andere aber werden in „Leichensäcke“ verstaut. Für diese kam jede Hilfe zu spät.
An Land jedoch ist alles anders — als in Deutschland. Man spricht eine andere Sprache. Man schreibt in einer fremden Schrift. Man achtet eine andere Religion. Wer nicht drei Mal am Tag „öffentlich“ betet, der wird als „Ungläubiger“ abgetan. Ihm wird jegliche Unterstützung und Almosen entzogen. Was tun Sie nun…?
Es heißt, man müsse sich zuerst „registrieren“ lassen. Aber wo? Und bei wem; bei einem Amt, einer Behörde etwa, der Bürgermeisterei…?? Man müsse in die Hauptstadt des Landes gehen, dort gebe es alle nötigen Papiere, Formulare, einschließlich einer Aufenthalts-Erlaubnis, die einem der Flüchtlings-Status garantiere. Doch wie dorthin gelangen — ohne Bargeld, ohne gültige Ausweise, ohne Einreise-Erlaubnis…? Alle Wertsachen und Ausweise hatten die Schleuser und Menschen-Händler einem ja nach und nach abgenommen… Also machen sich Tausende klammheimlich zu Fuß auf den Weg. Aus einzelnen Gruppen werden wieder größere Kolonnen, die sich ihrerseits zu ganzen „Trecks“ zusammenschließen. Eine vertraute Situation. Oftmals können diese Flüchtlinge nicht viel mehr als eine graue Wolldecke ihr Eigen nennen. Diese schützt auch Sie nun dürftig gegen Regen und nächtliche Kälte. Wieviel angenehmer war doch Ihre kleine Wohnung in Hamburg, Frankfurt oder München… Doch all diese „Gemütlichkeit“ liegt nun unwiederholbar in einem anderen, abgeschlossenen Leben. In Ihrem „Vorleben“.
Es war noch gar nicht solange her — die eigenen Eltern der Flüchtlinge waren gerade so alt wie diese es heute sind — dass sich Flüchtlings-Ströme durch Europa und Deutschland wälzten. Es war das Ende des „Zweiten Weltkrieges“ und Millionen von Deutschen flohen vor der heranrückenden Front der „Roten Armee“ in den Westen des zerbombten „Deutschen Reiches“. Aber im Wiederaufbau und dem „Wirtschaftswunder“ des Nachkriegs-Deutschland ließen sich Kriegsgreuel und Flucht leicht verdrängen. Und die Kinder und Enkel dieser Flüchtlings-Generation schafften sich im Zuge des sog. „Turbokapitalismus‘ “ sowie der „globalisierten Märkte“ schnell eine Luxus-Droge, die die Not und das Elend der Welt vergessen ließen. Materieller Luxus als das neue, legalisierte „Opium fürs Volk“. Armut und „humanitäre Katastrophen“ waren sehr weit weg und galten zuerst den Anderen, den Fremden eben. So schien es. Bis heute…
Nacht tagelangem Fußmarsch haben Sie endlich die Hauptstadt des Landes erreicht. Ein demokratisches Land. Ein bürokratisches Land. Gut durchorganisiert. Allein, vor den Ämtern und Behörden staut sich eine Menschen-Menge, dass es schier unmöglich wird, auf korrektem Weg — etwa über das Ziehen einer Wartenummer — auch nur annähernd eine Chance auf Einlass zu erhalten. 300 Nummern werden pro Tag abgearbeitet — aber 30.000 Menschen warten draußen vor den Türen. Was tun Sie nun…? Die Beamten bestechen? Mit wessen Geld…? In die Illegalität des Landes abtauchen? Wie gelingt es Ihnen, bis zu einem der Schalter vorzudringen; wie können Sie den begehrten „Sachbearbeiter“ ergattern? Zudem wird der Druck auf Sie durch kursierende Gerüchte erhöht, dass man sofort „abgeschoben“ wird, sollte man ohne gültige Papiere bei einer Kontrolle ertappt werden. Wie dieses Dilemma auflösen, dessen Lösung weit außerhalb Ihrer eigenen Fähigkeiten liegt…—? Ferner machen Meldungen die Runde, dass es in sog. „Auffanglagern“ und illegal errichteten Camps zu Gewalt unter den Insassen gekommen sei und dass die Stimmung in immer weiteren Teilen der hiesigen Bevölkerung kippen würde: aus einer „Willkommenskultur“ sei inzwischen eine allgemeine Atmosphäre des Hasses auf „die Flüchtlinge“, „die Ausländer“, „die Fremden“ geworden. Auch sei die Politik des Landes in einem allgmeinen Klima aus Hass, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nach „rechtsaußen“ umgekippt. Immer öfters würden Flüchtlingsheime von Rassisten angezündet und vernichtet werden. In manchen Städten des Landes würden „Ausländer“ sogar erneut vom Mob durch die Straßen gejagt — unter dem Beifall und dem Gejohle der Bevölkerung. Wie einstmals 1992 in Deutschland. Die Polizei sei gegen dieses menschenverachtende Treiben jedoch machtlos. Heißt es. Nach der Flucht ist also vor der Flucht…—?!
Stellen Sie sich einmal diese Situation vor. Und zwar nicht auf seiten des glatzköpfigen Mobs noch der johlenden Meute. Sondern allein, oder nur zu zweit, oder zusammen mit ihrer Frau und ihrem Kind. In Deutschland. Was würden Sie nun tun…—?