Die Erschießung des Professors Léonard Constant


Die Erschießung des französischen Gymnasial-Professors Léonard

Constant in Mainz

Eine Episode aus der Separatisten-Zeit, Teil I/VI

Einleitung

Die Besetzung von Mainz durch französische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg bedeutete für beide Seiten, Besetzer und Besetzte, eine ungeheure Kraftanstrengung; zu welchem Behuf, ist freilich die Frage. Den Besetzern kam es zunächst darauf an, ihre Rechte als Sieger des Weltkriegs geltend zu machen und ihre Macht zu demonstrieren. Alltägliche Belange aber mussten geregelt werden, sobald die Truppen mit ihren Offizieren das linksrheinische Gebiet betreten hatten: Wohnungen beschafft, das Verkehrs- und Nachrichtenwesen oder der Warenverkehr zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet neu festgelegt und organisiert werden. Welche Kompetenzen sollten die deutschen Behörden, Parteien und sonstigen Verbände noch besitzen dürfen, um die französische Besatzungsmacht in deren Vorhaben zu unterstützen? Wann waren diese Kompetenzen nach Meinung der neuen Herren am Rhein überschritten und förderten eine antifranzösische Stimmung oder gar Agitation? Das war nicht leicht zu entscheiden und änderte sich auch nach Maßgabe einzelner Befehlshaber sowie der allgemeinen politischen Lage. Diese kann grob in drei Phasen unterteilt werden: die Zeit des Waffenstillstands und der Besetzung der Stadt von Dezember 1918 bis Juni 1919; die Zeit des Inkrafttretens des Versailler Friedensvertrages bis zum Ruhrkampf und den Separatisten-Aufständen in den Jahren 1919 und 1923/24; schließlich eine allmählich einsetzende äußere Beruhigung der Lage von 1924 an bis zum Abzug der Franzosen aus Mainz im Juni 1930.

Die französischen Besetzer traten den Einheimischen gegenüber nicht nur als Befehlshaber auf, sondern suchten sie möglichst auch für sich zu gewinnen und auf die eigene Seite zu ziehen. Geglückt wäre dies vielleicht, wenn französische Ideen nach einer konföderierten Rheinischen Republik realisiert worden wären. Auch ein politisch neutraler „Mittelstaat“ wäre manchem französischen General noch recht gewesen; wenn nur ein Puffer hätte errichtet werden können an der Grenze zum alten „preußischen Erbfeind“. Die Verbündeten der Kriegsjahre aber blieben skeptisch gegenüber solchen französischen Gedanken; zudem war der deutsche Nationalismus stark und verhinderte einen Erfolg der Separatisten um Hans Adam Dorten (1880-1963), Josef Friedrich Matthes (1886-1943) und anderer „Freibündler“. Damit scheiterte auch der französische Versuch der „pénétration pacifique“ mit Ablauf des Krisenjahres 1923 und allenfalls noch dem Anfang von 1924.

Die unruhigsten Jahre der Besetzung waren mithin die Anfangsjahre, weil sich in ihnen die französische Unsicherheit über den eigenen Status und die Zukunft als Besatzungsmacht in dem scheinbaren Widerspruch aus überzogener Strenge oder teilweise gar willkürlichem Verhalten auf der einen Seite, und dem Versuch der Sympathiewerbung bei der Mainzer Bevölkerung bis hin zum Ziel einer Abspaltung des Rheinlandes vom Deutschen Reich auf der anderen Seite widerspiegelte. Danach kam es vereinzelt noch immer zu Irritationen im gegenseitigen Verhältnis, doch der Wegfall (oder die Aufgabe) einer ernsthaften geopolitischen Strategie durch Frankreich bewirkte eine gewisse Entspannung, deren Atmosphäre aus Gewöhnung und der Aussicht auf das durch den Versailler Vertrag festgelegte Ende der Besetzung spätestens nach 15 Jahren – also im Jahr 1934 – bestimmt wurden.

Das Krisenjahr 1923 brachte nicht wenige Menschen in handfeste existenzielle Nöte und steigerte die fieberhafte Suche nach Auswegen. War „Grosspreussen“ oder „Musspreussen“, wie die Separatisten verächtlich formulierten, noch in der Lage, das schwankende Staatsschiff zu steuern? Wurde es nicht sogar zur Gefahr für die Rheinlande, weil es auf einen – unterstellten – Revanchekrieg gegen Frankreich sann, der dann im Rheinland seinen vornehmlichen Schauplatz fände? Die Parole wurde ausgegeben: „Los von Grosspreussen, mit dem wir Rheinländer nie eine Kulturgemeinschaft gehabt haben.“[1] Diese Parole fand nicht nur in Mainz Widerhall, sondern auch in Köln, Aachen, Koblenz oder Wiesbaden. Im Presseorgan der „Freien Bauernschaft“ mit dem Titel „Freier Hesse Bauer“ hieß es am 8. Dezember 1923 unter der Überschrift „DIE NEUE RHEINISCHE REGIERUNG: Das schier Unglaubliche ist Tatsache geworden. Unter dem Vorsitz des Herrn Adenauer in Köln hat sich dort eine neue rheinische Regierung gebildet, die – und das ist gerade das Unglaubliche – aus Mitgliedern aller Parteien des besetzten Gebietes sich zusammensetzt.“[2] Auch anderwärts wurden separatistische Gedanken entwickelt. Katholiken träumten von einer Abspaltung vom protestantischen Norddeutschland und dem „lutherischen Preussen“ durch Errichtung „eines grossen katholischen Mittelreichs. Es sollte mit Hilfe der katholischen Geistlichkeit auf dem diplomatischen Umweg über Rom geschaffen werden als Pufferstaat zwischen Frankreich und Deutschland mit katholisch-monarchischer Spitze. Ein katholisch-monarchisches Bayern-Oesterreich sollte im Süden neu erstehen.“[3]

Beim rheinischen Separatismus handelte es sich also nicht nur um eine Anzahl junger Leute, die „vorm Rathaus oder auf dem Markt ein bisschen“[4] Spektakel machten, auch wenn die Polizeiberichte in Mainz von „Banden radaulustiger Burschen“ mit grün-weiß-roten Armbinden sprechen, die aus der unsicheren Lage ihren Vorteil ziehen und sich als „Herren“ aufspielen wollten.[5] Die Dynamik des rheinischen Separatismus speiste sich aus dem Umstand, dass er Hoffnungen in Teilen aller Gesellschaftsschichten weckte und jederzeit als Alternative wahrgenommen werden konnte, sobald eine Verschlechterung der eigenen Lebenssituation drohte. Als die Fürsorgesätze für Erwerbslose herabgesetzt wurden und der Bürgermeister sich weigerte, „die Unterstützung in ihrem vollen Umfang wieder herzustellen“, begaben sich „Arbeitslose um 1 Uhr zum Kreisamt […], um sich den Separatisten zur Verfügung zu stellen. Kurz darauf habe sich eine Delegation bei Herrn Oberst Spiral vorgestellt und ihm im Namen von 40000 Arbeitslosen eine Adresse überreicht, in der sie den Schutz des Reiches aufgaben. Gegen Abend kamen die Erwerbslosen in verstärkter Anzahl wieder. Die Polizei zerstreute stellenweise Ansammlungen mit Gummiknüppel und Säbel“, wobei es „einige Verletzte“ gab[6].

Die französischen Besetzer, die sich zur Gründung einer Rheinischen Republik allein nicht in der Lage sahen, weil sie eine Isolierung Frankreichs bei den ehemaligen Kriegsverbündeten befürchteten[7], hielten in vorausschauender Sorge vor dem Widerstand der Bevölkerung einen Kampfgefährten für ratsam. Wenn die französischen Wünsche von den mehrheitlich deutschstämmigen Separatisten[8] Vorschub geleistet bekamen, war dem Unternehmen vielleicht Erfolg beschieden.[9] Das Ausmaß des Widerstandes der deutschen Bevölkerung ließ dann jedoch innerhalb weniger Monate alle hochfliegenden separatistischen Pläne und französischen Unterstützungen erlahmen und schließlich versiegen.[10]

Ein Mosaikstein der separatistischen Eroberungsversuche in Mainz bildete die Erstürmung des Kreisamtes. Dabei wurde der französische Gymnasialprofessor Léonard Constant zum zufälligen Opfer der Kugel eines rheinischen Separatisten. Dem Regieplan der revolutionären Akteure hatte der tragische Vorfall nicht entsprochen. Sie mussten neue Dispositionen treffen, worüber im Folgenden berichtet werden soll. Das Vergrößerungsglas auf diesen Einzelfall gerichtet, können Reflexe auf die politische Gesamtlage studiert werden, die beim Schicksal Léonard Constants und der späteren Behandlung seiner „Angelegenheit“ in unruhigen Mainzer Zeiten die Fäden zogen oder doch wenigstens mitzogen.

 

[1] Vgl. Stadtarchiv Mainz, NL Schreiber 72.

[2] „FREIER HESSE BAUER“, Nr. 135 v. 8.12.1923; vgl. Stadtarchiv Mainz NL Schreiber. – Der Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz schreibt zum Thema Separatismus im Zusammenhang mit dem Kölner Oberbürgermeister, dass dieser es für geboten hielt, London „und vielleicht auch Washington“ zu veranlassen, „die einseitige Gewaltpolitik Frankreichs zu durchkreuzen. Der Ausweg, so sieht es Adenauer, kann nur in Richtung der Ideen liegen, die er seit längerem für zweckmäßig hält: Ingangsetzen einer freiwilligen und gleichberechtigten wirtschaftlichen Zusammenarbeit und – wenn alle Stricke reißen sollten – Wiederaufgreifen des Konzepts einer ‚Rheinischen Republik’ im Rahmen des Reiches. (Schwarz, Hans-Peter: Adenauer: Der Aufstieg: 1876-1952. Stuttgart 1986, S. 260).

[3] Vgl. ebd.

[4] Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman, vierter Teil, zweites Kapitel, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH, Zürich, Band 1.1, 2002, S. 196.

[5] Vgl. StA Mainz, NL Schreiber 73, Polizeimeldungen und Schriften aus der Separatistenzeit 1923/24.

[6] Aus „Freier Hesse Bauer“, Nr. 151 vom 24. November 1923, aufgefunden in Stadtarchiv Mainz, NL Schreiber 72.

[7] Der General der amerikanischen Truppen in Deutschland von 1919 bis 1923, Henry Tureman Allen (1859-1930), notierte am 16. Februar 1923, wenige Tage vor seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten von Amerika, in seinem Tagebuch: „Frankreich behauptet […] immer noch, daß es nicht beabsichtige, das Ruhr- oder Rheingebiet zu annektieren (‚annektieren’ ist ein falsches Wort); daß es nicht beabsichtige, eine künstliche Bewegung für die Schaffung eines selbständigen Staates im Ruhr- oder Rheingebiet zu fördern“, es wünsche jedoch, „vor künftigen Angriffen sicher zu sein, und Frankreich und Belgien wüßten, daß an der Ruhr hauptsächlich die Waffen für einen derartigen Angriff geschmiedet würden.“ (Henry T. Allen: Mein Rheinland-Tagebuch. Autorisierte deutsche Ausgabe, gekürzt und mit einer Einführung versehen. Berlin 1923, S. 374 f.)

[8] Auch in Mainz musste man sich eingestehen, dass es sich bei den Separatisten um „unsere Lait“ handelte.

[9] Ältere und jüngere Forschungs-Literatur zum Rheinischen Separatismus sind etwa: Erwin Bischof: Rheinischer Separatismus. Hans Adam Dortens Rheinstaatbestrebungen. Bern 1969; Martin Süss: Rheinhessen unter französischer Besatzung. Vom Waffenstillstand im November 1918 bis zum Ende der Separatistenunruhen im Februar 1924. Wiesbaden 1988 (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 31); Martin Schlemmer: „Los von Berlin“: die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2007.

[10] Die Rolle der Arbeiterschaft bei der Abwehr des Separatismus in Mainz wurde in einem Artikel des „Mainzer Anzeiger“ vom 1. Juli 1930 – einen Tag nach dem Abzug der Franzosen aus der Stadt – wie folgt bewertet: „Niemals darf von der Bevölkerung der Stadt Mainz vergessen werden, was die Arbeiterschaft an schlimmen Folgen von der Stadt Mainz abgewehrt hat. Denn alle näheren Kenner der Separatistenbewegung wissen, daß die Separatisten von Mainz aus das hessische Gebiet beherrschen wollten. Das Schwergewicht des Kampfes und damit auch die Entscheidung lag in der Hauptsache in Mainz.“

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